Kapitel 9 - Dieser Ehrwürdige ist kein guter Schauspieler
Wütend, dass er ihn bis spät in die Nacht noch arbeiten lassen will, hat sich Mo Ran einen besonderen Streich für seinen Shizun ausgedacht: Mit geschickter Hand beschmiert er einige Bücher mit recht obszönen Bildern - und merkt in seinem Übermut gar nicht, dass er nicht mehr alleine ist.
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Chu Wannings Geschmack war wirklich grauenvoll.
Nervtötend und trocken. Zum Verzweifeln stumpfsinnig!
Schau sich nur einer mal die Regale an. Was für ein Haufen lahmer Bücher!
„Zusammenstellung historischer Barrieretechniken“, „Enzyklopädie der exotischen Blumen und Pflanzen“, „Sammlung von Guqin-Liedern der Rufeng-Sekte in Linyi“, „Katalog der Kräuter und Bäume“. Die einzigen zwei Schriftstücke, die man noch als zwanglosere und zum Lesen einladende Literatur bezeichnen konnte, waren „Eine Reise in das Land Sichuan“ und „Sichuan-typische Kochrezepte“.
Mo Ran nahm ein paar der Bücher heraus, die noch neuer wirkten und die Chu Wanning wohl nicht oft lesen würde. Er begann quer über die Seiten zu malen und einen Haufen vulgärer, erotischer Bilder zu zeichnen.
Während er das tat, dachte er: Es gibt hier drin mindestens 8.000 Bücher – vielleicht sogar 10.000. Er war sich nicht sicher, wann Chu Wanning heraus finden würde, dass einige von ihnen in grafische Erotikbände umgewandelt worden waren, aber, wenn er es dann merkte, würde es nicht mehr möglich sein, herauszufinden, wer es getan hatte, also würde Chu Wanning nichts weiter übrig bleiben, als im Stillen darüber zu brodeln. Mo Ran war ja so schlau!
Er konnte nicht anders, als laut aufzulachen, und schadenfroh eines der Bücher hoch zu heben.
Inzwischen hatte Mo Ran bereits zehn dieser Bücher beschmiert. Er ließ seiner Fantasie völlig freien Lauf, während er sich Szenen zum Zeichnen ausdachte, die dann unter seinen Händen Gestalt annahmen. Die werden sogar ziemlich gut, stellte er bewundernd fest. Seine Pinselführung war elegant und verführerisch, aquarellartig verwaschene Flächen breiteten sich auf dem Papier aus wie im Winde wehende Schleier. Dazwischen sah man im starken Kontrast eine scharfe Pinselführung mit so klar definierten Strichen wie nasser Stoff, der an nackter Haut klebte. Es war nicht allzu schwer, sich vorzustellen, welche Gerüchte die Runde machen würden, wenn sich jemand ein Buch vom Ältesten Yuheng ausleihen sollte und er dabei zufällig eines von diesen Exemplaren erwischte…
„Der Älteste Yuheng ist wirklich eine hinterhältige Schlange! Er hat doch wirklich Bilder von Unzucht und Hurerei in Die Kunst der Meditation versteckt!“
„Der Älteste Yuheng ist aber auch ein schmutziger Meister! Er hat sogar eine Bildgeschichte von einem schwulen Pärchen in seinem Handbuch der Schwertkunst stehen!“
„Und der nennt sich der ehrwürdige Unsterbliche Beidou? Das ist doch nur ein Tier in Menschenkleidern!“
Je mehr Mo Ran darüber nachdachte, desto lustiger wurde es. Am Ende konnte er sich vor Lachen nur noch den Bauch halten, sich auf dem Boden kugeln und vor Freude mit den Beinen strampeln. Er war so sehr in sein Tun vertieft, dass er noch nicht einmal bemerkte, als jemand an der Tür zur Bibliothek auftauchte.
Daher war das Erste, was Shi Mei beim Eintreten sah, ein Mo Ran, der sich den Pinsel in der Hand haltend in einem Bücherhaufen wälzte, während er wie verrückt lachte.
Shi Mei hielt kurz inne – und fragte dann: „… A-Ran, was tust du da?“
Mo Ran erstarrte, schoss dann in die Höhe und verdeckte hastig alle gemalten, obszönen Bilder, während er sofort eine unschuldig-welpenhafte Mine aufsetzte: „Ich… Ich wische nur den Boden.“
Shi Mei musste ein Lächeln unterdrücken: „Du wischst den Boden mit deinen Kleidern?“
„Ah, ich hab den Lappen nicht finden können. Ist ja auch egal. Shi Mei, was machst du so spät noch hier?“
„Ich bin zu dir nach Hause gegangen, aber ich habe dich nicht finden können. Ich hab jemanden gefragt und man hat mir gesagt, dass du immer noch bei Shizun bist.“ Shi Mei betrat die Bücherei und half Mo Ran, die Bücher aufzulesen, die auf dem Boden lagen. Mit einem sanften Lächeln sagte er: „Ich hatte sowieso nichts weiter zu tun, deshalb bin ich gekommen, um dich zu sehen.“
Mo Ran war selig und auch ein bisschen geschmeichelt. Er schloss den Mund wieder. Aus irgendeinem Grund war nun nicht mehr die Spur seines so lässigen Charmes zu finden und er wusste nicht, was er sagen konnte.
„Dann… ähm… Dann setzt dich einfach zu mir!“ Nachdem er eine Sekunde lang aufgeregt einen Platz auf dem Boden frei geräumt hatte, sagte Mo Ran etwas nervös: „Ich… ich werde dir etwas Tee einschenken.“
„Nicht nötig, ich habe mich ja rein geschlichen. Wenn Shizun das raus findet, bekommen wir beide Ärger.“
Mo Ran kratzte sich den Kopf. „Wahrscheinlich…“ Chu Wanning war ja so ein Ekel! Früher oder später, würde er ihn stürzen und Shi Mei aus seinen Krallen befreien!
„Hast du schon zu Abend gegessen? Ich habe dir was mitgebracht.“
Mo Rans Augen leuchteten auf: „Deine Wontons?“
„Pff, hast du die denn nicht schon längst über? Nein, die habe ich nicht dabei. Der Rote Lotos Pavillon liegt zu weit weg, und ich hatte Angst, dass sie aneinander pappen würden, bis ich dann hier bin. Hier, ich habe dir etwas Pfannengemüse gemacht. Mal schauen, ob dir das auch schmeckt.“
Shi Mei nahm den Deckel von dem Essenstablett neben ihnen. Und tatsächlich lagen darin einige Gerichte von scharfer, roter Farbe. Eine Platte mit pikantem Schweineohrensalat nach Art von Shunfeng, herzhaftes Schweinegeschnetzeltes mit frittiertem Gemüse, Hähnchenwürfel auf scharfem Zwiebelbett, Gurkensalat und eine Schüssel Reis.
„Ahh, diesmal hast du roten Chilischoten rein getan?“
„Ja, aber nur ein paar. Ich hab mir Sorgen gemacht, dass du zu viele von ihnen essen könntest, also habe ich mich bei ihnen zurück gehalten.“ Shi Mei lächelte. Er und Mo Ran teilten beide die Vorliebe für scharfe Speisen, und natürlich wussten sie, dass kein Essen wirklich zu scharf sein konnte. „Deine Wunden sind immer noch nicht genug verheilt. Ich wollte nichts riskieren, wenn ich zu viel verwenden würde. Also habe ich nur ein bisschen was für den Geschmack hinein gemischt – immer noch besser als gar nichts Rotes im Essen zu haben.“
Mo Ran biss glücklich in seine Essstäbchen, seine Grübchen erschienen in dem Kerzenlicht wie dicke Honigtropfen. „Wow! Ich könnte heulen vor Dankbarkeit!“
Shi Mei unterdrückte ein Lachen: „Das Essen wird noch kalt werden, bis du dich wieder ein gekriegt hast. Zum Weinen hast du auch noch später Zeit.“
Mo Ran stieß einen fröhlichen Juchzer aus und langte dann zu; seine Stäbchen stachen mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die Luft. Er aß wie ein Hund, der kurz vor dem Verhungern stand. Chu Wanning war das immer unangenehm, aber Shi Mei machte es nichts aus.
Shi Mei war immer hilfsbedürftig, er lächelte und sagte ihm, dass er langsamer machen sollte, während er ihm zugleich eine Tasse Tee reichte. Die Teller leerten sich schnell. Mo Ran klopfte sich den Bauch und stieß ein zufriedenes Seufzen aus. Er schloss die Augen. „Das war köstlich…“
„Und was hat besser geschmeckt: Die Wontons oder dieses Essen?“, fragte Shi Mei im beiläufigen Plauderton.
Bei Menschen, die Mo Ran sehr liebte, war seine Liebe bedingungslos und hartnäckig – und ganz so stand es bei ihm auch mit seinen Leibgerichten. Er legte den Kopf schräg und seine schwarzen und schimmernden Augen sahen sanft auf Shi Mei; dann grinste er: „Die Wontons.“
Shi Mei blieb kurz still. Dann lächelte er und schüttelte den Kopf. Nach einer Pause sagte er: „A-Ran, lass uns deine Bandagen wechseln und die Wunden neu verarzten.“
Er hatte eine heilende Salbe dabei, die von Madam Wang persönlich hergestellt wurde. Madam Wang war einst eine Schülerin der medizinischen Sekte Guyueye gewesen. Ihre körperliche Kultivierungskraft war nur schwach und sie mochte es nicht zu kämpfen oder zu töten, aber den medizinischen Künsten war sie sehr zugetan. Es gab einen Garten mit Heilpflanzen auf dem Sisheng Peak, den sie selbst angepflanzt hatte. Dort fand man sehr viele seltene Kräuter und Pflanzen, und so hatte die Sekte niemals Mangel an Salben und Medikamenten.
Mo Ran zog sein Hemd aus und setzte sich mit den Rücken zu Shi Mei. Die Narben auf seinem Rücken schmerzten immer noch leicht, aber als Shi Mei seine Finger in die Salbe tunkte und sie vorsichtig aufbrachte, war er dabei so sanft, dass er fast auch den Schmerz zur Seite strich. Doch immer noch fühlte Mo Ran den Groll in seinem Herzen für die Person, die ihn diese Wunden beigefügt hatte.
„Gut.“ Shi Mei wickelte eine neue Schicht Binden um Mo Rans Oberkörper und steckte sie sorgfältig fest. „Du kannst deine Kleider wieder anlegen.“
Mo Ran drehte sich um und beäugte Shi Mei. Unter dem matt-gelben Kerzenlicht erschien Shi Meis Haut so rein und weiß wie Schnee und wirkte dadurch nur noch verführerischer. Seine Zunge wurde trocken. Eigentlich wollte er sich die Kleider nicht wirklich wieder anziehen, doch nachdem er so etwa für eine Minute lang gezögerte hatte, senkte er den Kopf und schlüpfte schnell wieder in sein Hemd.
„Shi Mei.“
„Ja?“
In dieser klaustrophobischen und abgelegenen Privatbibliothek gab es gerade nur sie beide. Eigentlich war der Moment perfekt. Mo Ran wollte etwas süßes und bewegendes sagen, vielleicht einige Zeilen von einem Gedicht zitieren. Aber er war nun mal immer noch der ungebildete Rüpel, der seiner eigene Regentschaftsperiode einen Namen wie „Ji Ba“ gegeben hatte, der in der Umgangssprache wie „Schwanz“ klang. Nachdem er eine Weile lang nach den richtigen Worten gesucht hatte, lief sein Gesicht knallrot an, und am Ende brachte er gerade mal einen Satz heraus: „Du bist sehr freundlich.“
„Was? Warum sollte ich das auch nicht sein?“
„Ich werde auch sehr gut zu dir sein.“ Mo Rans Ton war ruhig, aber seine Hände schwitzten und sein schneller Herzschlag verriet seine Nervosität. „Wenn es mir wieder besser geht, werde ich nie mehr zulassen, dass dich jemand belästigt. Nicht einmal Shizun.“
Shi Mei wusste nicht, warum Mo Ran so plötzlich diese Dinge ansprach. Für einen Moment lang wirkte er verblüfft, aber er sagte immer noch sanft: „Also gut. Dann werde ich mich jetzt also ganz auf A-Ran verlassen.“
„Mhmm…“, murmelte Mo Ran als Antwort. Shi Meis eindringlicher Blick ließ sein Herz nur noch schneller rasen. Er wagte es nicht, noch länger hinzusehen, also senkte er den Kopf. Mit diesem Jungen war er immer sehr vorsichtig gewesen, ja er war in seiner Gegenwart fast schon zwanghaft zurückhaltend.
„Ah, Shizun will, dass du all diese Bücher abstaubst? Und sie dann auch noch ordnest? Wird dich das nicht die ganze Nacht kosten?“
Vor seinem Liebsten musste Mo Ran natürlich sein Gesicht wahren: „So schlimm ist das auch wieder nicht. Wenn ich mich ein bisschen ran halte, kann ich das noch schaffen.“
„Lass mich dir helfen“, sagte Shi Mei.
„Niemals! Wenn Shizun dich hier findet, werden wir beide dafür bestraft.“ Mo Ran war da sehr unnachgiebig. „Es ist schon spät. Du solltest dich ausruhen. Morgen früh hast du doch Unterricht.“
Shi Mei ergriff seine Hand und lachte zärtlich: „Ist schon okay, er wird es nicht heraus finden. Wir müssen nur super-leise sein…“
Ehe er zu Ende sprechen konnte, hörte sie auch schon eine kalte Stimme: „Und was genau wollt ihr zwei so super-leise machen?“
Irgendwann musste Chu Wanning leise aus seiner Werkstatt gekommen sein. Sein Gesicht war kalt und seine Phönixaugen schossen eisige Blitze auf sie hinab. Er war in frostig, weiße Kleider gehüllt, stand dort im Türrahmen der Bibliothek und sah sie an, ohne auch nur die leiseste Regung in seiner Mine zu zeigen. Sein Blick blieb kurz an ihren ineinander verschränkten Händen hängen, ehe er die Augen abwandte. „Shi Mingjing, Mo Weiyu. Ihr beide habt wirklich Nerven.“
Shi Meis Gesicht verlor jede Farbe. Rasch ließ er Mo Rans Hand los und seine Stimme klang sehr dünn: „Shizun…“
Mo Ran fluchte innerlich. Er merkte, wie ernst die Lage war, und senkte ebenfalls den Kopf: „Shizun.“
Chu Wanning betrat den Raum. Er ignorierte Mo Ran und sah nun auf Shi Mei hinab, der ihm zu Füßen kniete. „Der Rote Lotos Pavillon ist mit zahlreichen Zaubern und Barrieren umgeben“, sagte er kalt. „Glaubst du wirklich, ich würde es nicht merken, wenn sich jemand Zutritt verschafft?“
Shi Mei senkte seinen Kopf vor Angst noch weiter: „Dein Schüler hat falsch gehandelt.“
Panisch fiel Mo Ran ihm ins Wort: „Shizun, Shi Mei ist nur gekommen, um mir beim Wechseln der Bandagen zu helfen. Er wollte gleich danach wieder gehen. Bitte verurteile ihn nicht dafür.“
Auch Shi Mei sagte nun hastig: „Shizun, diese Angelegenheit hat nichts mit Mo-shidi zu tun. Es war allein meine Schuld. Ich bin bereit, die Strafe für mein Handeln zu tragen.“
Chu Wanning sagte nichts, aber sein Gesicht färbte sich langsam blau. Er selbst hatte kaum ein paar Worte gesprochen, doch diese beiden waren schon so eifrig dabei, Ausreden vorzubringen, um den anderen zu decken – so als ob sie in ihm eine Bedrohung sehen würden, einen gemeinsamen Feind. Chu Wanning blieb noch eine ganze Weile lang still und konnte das Zucken seiner Augenbrauen nur schwer unterdrücken. Am Ende sagte er schließlich: „Es ist bewegend, solche Hingabe zwischen zwei Schülern zu sehen. Scheint so, als wäre ich hier der einzig Böse in dem Zimmer.“
„Shizun…“, begann Mo Ran.
„...Sei still.“
Chu Wanning schlug seine weiten Ärmel zur Seite und sprach nicht weiter. Mo Ran verstand nicht, was er für ein Problem hatte, oder warum er so wütend war. Er konnte nur vermuten, dass Chu Wanning es nicht mochte, wenn die Leute bei einander saßen, zusammen quatschten und sich näher kamen. Ganz egal, worüber sie auch reden würden, für ihn war es wahrscheinlich alles irgendwie schmutzig.
Die drei waren noch für eine ganze Weile lang einfach nur still.
Plötzlich drehte sich Chu Wanning zum Gehen um.
Shi Mei hob den Kopf, seine Augen waren ein bisschen rot und er fragte verwirrt: „Shizun?“
„Du schreibst mir das Regelwerk der Sekte zehn Mal ab. Und nun geh.“
Shi Mei senkte seine Augen. Er flüsterte leise: „...Ja, Shizun.“
Mo Ran blieb noch immer an Ort und Stelle sitzen.
Shi Mei stand auf. Er warf Mo Ran einen Blick zu und zögerte, so als ob er noch etwas sagen wollte. Nach einer langen Pause, kniete er sich erneut hin und bat Chu Wanning: „Shizun, die Wunden von Mo-shidi sind gerade erst verheilt. Es mag anmaßend sein, wenn dein Schüler dich nun darum bittet, aber bitte, bestrafe ihn nicht noch mehr.“
Chu Wanning stand alleine im schwach flackernden Kerzenlicht und sagte kein Wort. Nach einer Weile wandte er plötzlich den Kopf zur Seite. Alles, was sie noch sehen konnten, waren seine scharfen Augenbrauen und die sengenden Augen. Er keifte: „Genug mit diesem Unfug! Warum bist du überhaupt noch hier?!“
Wenn er ruhig blieb, war Chu Wanning wirklich unglaublich hübsch, aber wenn er einmal wütend wurde, sah er wirklich zum Fürchten aus. Shi Mei fuhr zusammen und zitterte. Aus Angst, dass er Shizun nur noch mehr verärgern und Mo Ran damit nur noch mehr Probleme bereiteten würde, verbeugte er sich rasch und ging.
Und so waren es in der Bibliothek nur noch zwei. Mo Ran seufzte: „Shizun, es war meine Schuld. Ich werd’ weitermachen und die Bücher ordnen.“
Überraschenderweise sagte Chu Wanning nur, ohne dabei den Kopf zu bewegen: „Wenn du müde bist, steht es dir frei zu gehen.“
Mo Rans Kopf zuckte nach oben.
Chu Wanning sagte kalt: „Ich werde dich nicht zum Bleiben nötigen.“
Warum sollte er so nett sein und mich gehen lassen? Das musste doch irgendeine Art an Trick sein!
Mo Ran meinte nur vorlaut: „Ich werde nicht gehen.“
Chu Wanning schwieg und lächelte dann kühl: „… Schön, das liegt an dir.“
Mit diesen Worten schlug er seine Ärmel aus, drehte sich um und ging.
Mo Ran war verblüfft. Das war kein Witz gewesen? Er hatte fest damit gerechnet, dass Chu Wanning ihn nur mit einem weiteren Runde Prügel durch Tianwen belohnen würde, wenn er wirklich ging.
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Er brauchte tatsächlich noch bis Mitternacht, um diese Aufgabe zu beenden. Gähnend verließ Mo Ran endlich die Bücherei. Trotz der späten Stunde drang noch immer ein mattes, gelbliches Licht aus Chu Wannings Schlafzimmerfenster.
Was denn? Dieser nervtötende Dämon war noch nicht zu Bett gegangen?
Mo Ran ging hinüber, um sich von Chu Wanning noch zu verabschieden und ihm eine gute Nacht zu wünschen. Als er aber das Zimmer betrat, stellte er fest, dass Chu Wanning bereits eingeschlafen war. Aber der arme Mann mit seinem schlechten Gedächtnis hatte wohl vergessen die Kerzen zu löschen, ehe er sich schlafen legte.
Oder besser gesagt, war er wohl noch mitten drin gewesen, auf dem Bett irgendetwas zu bauen, als er vor Erschöpfung eingeschlafen war. Als Mo Ran den Heiligen Nachtwächter sah, der in Einzelteile zerlegt neben dem Bett lag, sah er seine letzte Theorie bestätigt. Chu Wanning hatte noch nicht einmal seine metallenen Arbeitshandschuhe abgelegt und hielt noch immer ein halbes Maschinenteil in seinen Händen.
Im Schlaf wirkte Chu Wanning nicht so ernst und kalt wie sonst. Er hatte sich auf dem Bett zusammen gerollt, das mit mechanischen Bauteilen, Sägen und Äxten gespickt war. Es waren so Sachen darauf verteilt und eigentlich gab es kaum genug Platz für ihn, also hatte er sich zu einem engen Ball zusammen gerollt. Sein Rücken krümmte sich, seine langen Wimpern fächerten sich auf seinen blassen Wangen auf. Dieses Bild wirkte beinah schon ein wenig einsam.
Mo Ran starrte ihn eine Weile lang an.
Vorhin… Worüber war Chu Wanning da so wütend gewesen?
Hatte das nur daran gelegen, dass sich Shi Mei in den Roten Lotos Pavillon geschlichen hatte und Mo Ran bei seiner Strafe helfen wollte?
Mo Ran nährte sich dem Bett und rollte mit den Augen. Er lehnte sich etwas näher zu Chu Wannings Ohr und sprach ihn vorsichtig mit sehr, sehr leiser Stimme an: „Shizun?“
„… Mhmm…“, grummelte Chu Wanning leise und umarmte das kalte Gerät in seinen Armen noch fester. Er schlief bereits tief und sein Atem ging gleichmäßig. Die metallenen Handschuhe, die er sich nicht ausgezogen hatte, waren seinem Gesicht sehr nah und die scharfen Spitzen am Ende der Finger wirkten wie die Klauen einer Katze oder eines Leoparden.
Als Mo Ran erkannte, dass er wahrscheinlich nicht sobald wieder aufwachen würde, verengte er die Augen und ein Grinsen schlich sich in seine Mundwinkel. Er drückte sich selbst sehr nah an Chu Wannings Ohr und senkte die Stimme, als wolle er das Eis eines gefrorenen Sees testen: „Shizun, wach auf.“
Keine Antwort.
„Shizun?“
Keine Antwort.
„Chu Wanning?“
Immer noch keine Antwort.
„Hah, du bist wirklich eingeschlafen.“ Mo Ran war entzückt. Er stützte seinen Arm auf den Kissen ab und sah ihn mit einem Lächeln an. „Großartig. Dann kann ich die Gelegenheit ja nutzen und dir mal richtig die Meinung sagen.“
Chu Wanning hatte keine Ahnung, dass es jemand gerade auf ihn abgesehen hatte. Seine Augen blieben geschlossen und er schlief weiter, sein schönes Gesicht wirkte so friedlich.
Mo Ran nahm eine mächtige Pose ein. Es war ein Jammer, dass er in einem Freudenhaus aufgewachsen war. Monate seiner Jugend waren verstrichen, ohne dass er auch nur ein Wort lesen gelernt hatte. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte er in seinem Alltag nur die derben Gesprächen der Straße gehört und die Geschichten, die sich die Leute dort erzählt hatten. Und so klangen die Worte und Sätze, die er nun zu bilden versuchte, alle irgendwie lahm und seltsam.
„Du herzloser, verzogener Mann vom Clan der Chus, du doppelzüngiger Verräter, du ungehobelter Aufrührer, du… uh, du…“
Er kratzte sich den Kopf, während er mit den Worten kämpfte. Selbst nachdem er damals Kaiser geworden war, waren die einzigen Beleidigungen, die er öfters mal genutzt hatte du räudige Hündin oder Bastard gewesen, aber keine von denen schien sonderlich gut zu Chu Wanning zu passen.
Nachdem er sein Hirn zermartert hatte, fiel ihm plötzlich eine Verwünschung ein, die die Mädchen im Freudenhaus öfters mal gesagt hatten. Auch wenn er sich nicht ganz sicher war, was dieser Fluch nun eigentlich bedeutete, so erschien er ihm gerade sehr passend. Und so runzelte Mo Ran furchteinflößend die Brauen und sagte mit scharfer Zunge: „Du wankelmütiges, undankbares, verachtenswertes, kleines Flittchen, wirst du wohl deine Untaten gestehen?“
Chu Wanning gab keine Antwort.
„Wenn du nichts dazu sagst, wird dieser Ehrwürdige das als ein Geständnis werten!“
Chu Wanning hatte offenbar eine Art Geräusch gehört. Er schnaubte einmal und schlief dann weiter, wobei er das Maschinenteil in seinen Armen noch fester umarmte.
„Deine Vergehen sind zu groß gewesen; also wird dieser Ehrwürdige nun dem Gesetz entsprechend über dich richten… ähm… Ich verurteile dich zur verbalen Schelte. Liu-gong!“
Er war so sehr in den Moment versunken, dass er erst, nachdem er die Worte ausgesprochen hatte, erkannte, dass der gute Liu-gong eine Person in seinem letzten Leben gewesen war – und er jetzt nicht hier war.
Mo Ran zögerte kurz, unsicher was er als Nächstes tun sollte, und beschloss dann, sich auch ein bisschen zum Narren zu machen und die Rolle des Dieners selbst zu spielen. Mit schmeichelnder Stimme erwiderte er nun: „Eure Majestät, Euer alter Diener ist schon zur Stelle.“
Dann räusperte er sich und sagte feierlich: „Führe sofort die Bestrafung aus.“
„Wie Eure Majestät befielt.“
Sehr schön, genug jetzt der Formalitäten. Mo Ran knackte mit den Finger und machte sich bereit, Chu Wanning zu „bestrafen“.
Eigentlich existierte eine sogenannte verbale Schelte nicht. Mo Ran hatte sie sich gerade ausgedacht. Also wie sollte er die jetzt ausführen?
Mo Ran, der ehemalige Tyrann dieser Welt, räusperte sich einmal feierlich. Seine Augen blickten kalt und erbarmungslos, als er sich langsam zu Chu Wanning hinunter beugte und er der eisigen Haut seiner wie mit Schnee überhauchter Wange immer näher kam – ein wenig näher noch an seine blassen Lippen.
Und dann…
Mo Ran hielt inne, er starrte auf Chu Wanning hinab. Er wirkte verdutzt und frustriert, und dann fluchte er und er spie ihm jedes Wort ins Gesicht: „Chu Wanning, fick dich doch in deiner so unübertrefflichen Engstirnigkeit!“
Klatsch. Klatsch.
Zwei angedeutete Ohrfeigen erklangen.
Haha, die Vollstreckung war erfolgreich! Yeah, klasse!
Mo Ran amüsierte sich köstlich. Doch dann fühlte er plötzlich, wie sich die Haare in seinem Nacken aufstellten. Die ihn umgebende Luft gefror. Sein Blick schoss nach unten und er begegnete einem Paar reiner, edler und doch eiskalter Phönixaugen.
Mo Ran verschlug es die Sprache.
Chu Wannings Stimme klang wie zersplitternde Jade, wie das laute Knacken von Eis, das über einem gefrorenem See hallte. Mo Ran hätte nicht sagen können, ob es für ihn nun erhaben und göttlich klang, oder ihn aber bis in die Knochen hinein vor Kälte zittern ließ: „Was tust du da?“
„Dieser Ehrwürdige… ah. Dieser Diener… nein, ahhh!“ Es war gut, dass diese beiden Sätze nur so leise wie das Summen einer Mücke waren. Chu Wanning runzelte leicht die Stirn. Es schien, als hätte er ihn nicht gut verstanden. Mo Ran kam eine Idee. Er hob seine Hand und klatschte noch zwei weitere Male in die Luft gleich neben Chu Wannings Gesicht.
Chu Wanning blieb ganz still.
Und wo er nun so mit der immer finster werdenden Mine seines Shizun konfrontiert wurde, zwang sich der ehemalige Kaiser zu einem nervösem und besänftigendem Grinsen: „Die-Dieser Schüler hat die Mücken von Shizun weg gescheucht.“
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-gong: Nachsilbe, für ältere Männer. Sie gilt als respektvoller Titel für einen Groß- oder Schwiegervater, einen Mann höheren Status’ oder für höher gestellte, ältere Diener in einem Palast.
So, damit hätten wir den ersten Arc "Wiedergeburt" geschafft! Mo Ran wurde wiedergeboren und versucht sich, in seiner alten Welt neu einzuleben (mehr schlecht als recht). Das nächste Kapitel wird ein neues Kapitelbild tragen - jeder Arc kriegt ein eigenes Thema!
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