Kapitel 10 - Dieser Ehrwürdige geht auf seine erste Mission

 


Nach seiner Strafe wird Mo Ran seine erste Mission zugeteilt: Ein Auftrag zur Dämonenaustreibung in der Stadt Caidie. Mo Ran freut sich sehr darauf - immerhin hat sich dort im letzten Leben zwischen ihm und Shi Mei eine intime Szene ereignet...


So, mein zweiter Arc beginnt und mit ihm ein neues Kapitelbild - man kann es sich denken, so gut wie alle Kapitel hier spielen in der Nacht (dieses erste einmal abgesehen). Ich werde übrigens meine Kommentare (falls ich was zum Kapitel sagen will) jetzt immer so an den Anfang oder das Ende schreiben und mich nicht mehr in der Kommentarfunktion zu Wort melden ;) Viel Spaß mit dem Kapitel!

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Glücklicherweise hatte Chu Wanning nichts von Mo Rans soeben noch aufgeführter „verbalen Schelte“ mitgekriegt. Der hatte ja selbst kaum einen Sinn in all dem Geschwafel finden können, das er von sich gegeben hatte. Und so kam er mit dieser dünnen Ausrede noch mal davon.

Als er endlich in sein Zimmer zurück gekehrt war, war es bereits sehr spät und Mo Ran schlief schnell ein. Am nächsten Tag nahm er dann am üblichen Morgentraining teil. Dies war zwar eindeutig nicht die Art, wie er den Tag beginnen würde, wenn man ihm die Wahl gelassen hätte: Für Training war es einfach viel zu früh. Allerdings kam danach sein liebstes Morgenritual: Das Frühstück.

Wenn jemand Mo Ran gefragt hätte, was das Beste am Sisheng Peak war, so hätte er auf jeden Fall geantwortet: In dieser Sekte ist kein Fasten vorgesehen!

Ja, wirklich! Anders als viele andere der ach-so-hochtragenen Sekten in der oberen Kultivierungswelt praktizierte der Sisheng Peak keine Kultivierung, in der man auf Fisch oder Fleisch verzichten musste. Auch Fastenzeiten gab es nicht. Daher war das Essen hier immer sehr reichlich.

Mit dem Ende des Trainings strömten immer mehr Schüler in die Mengpo-Halle. Mo Ran setzte sich Shi Mei gegenüber. Xue Meng kam etwas später und da war der andere Platz neben Shi Mei schon belegt. Innerlich das eigene Trödeln verfluchend verzog Xue Meng das Gesicht zu einer Grimasse und setzte sich dann widerstrebend neben Mo Ran.

Der trank gerade aus seiner Schüssel eine würzig-scharfe Youcha-Suppe und schlürfte die darin versenkten gehackten Erdnüsse, das fein geschnittene Gemüse und die knackigen Sojabohnen auf. Die Platte knusprig gebratener Brötchen vor ihm, die man so lange in Öl ausgebacken hatte, bis sich eine goldene Kruste bildete, hatte Mo Ran extra für Shi Mei geholt.

Xue Meng beäugte ihn kritisch und sagte dann ziemlich spöttisch: „Mo Ran, ich kann kaum glauben, dass du immer noch laufen kannst, nachdem du den Roten Lotos Pavillon verlassen hast. Beeindruckend.“

Aber sicher“, erwiderte Mo Ran, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, den Kopf zu haben. „Für wen hältst du mich denn?“

Für wen hältst du dich?“, schnaubte Xue Meng. „Nur weil Shizun dir keins deiner Beine gebrochen hat, bist du trotzdem noch lange nicht mehr wert als ein Wackelpudding.“

Oh, wenn ich ein Wackelpudding bin, was bist du dann erst?“

Xue Meng grinste: „Ich bin Shizuns liebster Schüler.“

Hast du dich gerade selbst dazu ernannt? Lass dir das lieber erst mal von Shizun schriftlich bestätigen. Er soll dir eine Urkunde machen, die du dir dann einrahmen und an die Wand hängen kannst. Als sein liebster Schüler kannst du das doch ruhig verlangen, oder?“

Mit einem Knacken brachen Xue Mengs Essstäbchen entzwei.

Shi Mei versuchte hastig, die Wogen zu glätten und den Vermittler zu spielen: „Hört auf zu streiten. Beeilt euch lieber und esst auf.“

Xue Meng gab ein leises Hmph von sich.

Mo Ran machte ihn nach, ein diebisches Lächeln auf den Lippen: „Hmph!“

Wütend knallte Xue Meng die Handflächen auf den Tisch: „Du wagst es?!“

Als er sah, wie die Situation mehr und mehr aus dem Ruder lief, griff Shi Mei Xue Meng beschwichtigen am Arm: „Junger Herr, so viele Leute sehen schon zu. Lasst uns essen, lasst uns essen. Und hört auf zu streiten.“

Diese zwei jungen Männer waren vom Wesen her einfach nicht kompatibel. Auch wenn sie Cousins waren, so lagen sie sich doch ständig in den Haaren, wenn sie aufeinander trafen. Shi Mei versuchte erfolglos Xue Meng mit Worten zu beschwichtigen. Am Ende musste er sich sogar zwischen die beiden setzen, um etwas Abstand zwischen sie zu bringen. Nun versuchte er, die zwei Streithähne abzulenken und mit beiden ein Gespräch zu beginnen.

Shi Mei drehte sich zu Xue Meng: „Junger Herr, weißt du, wann die Katze der Madam ihre Kätzchen zur Welt bringen wird?“

Oh, du meinst A-Li? Meine Mutter hat sich geirrt – sie ist gar nicht schwanger. Das Tier hat nur zu viel gegessen und einen dicken Bauch bekommen.“

Shi Mei wusste nicht, was er da drauf erwidern sollte.

Nach einer Weile wandte er sich Mo Ran zu: „A-Ran, musste du heute immer noch für Shizun arbeiten?“

Ich glaube nicht. Alles, was getan werden musste, habe ich erledigt. Ich werde dir heute helfen, die Sektenregeln abzuschreiben.“

Shi Mei lächelte: „Hast du dafür überhaupt die Zeit? Du musst sie doch selber noch hundert Mal kopieren.“

Xue Meng hob eine Augenbraue und sah Shi Mei überrascht an. Der verhielt sich sonst immer mustergültig und hatte noch nie wegen irgendetwas bestraft werden müssen. „Warum musst du denn die Sektenregel abschreiben?“

Shi Mei sah peinlich berührt aus. Doch noch bevor er antworten konnte, erstarb plötzlich das Gesumme der Gespräche im Speisesaal. Es wurde totenstill. Die drei wandten den Kopf und sahen, wie Chu Wanning in seinen weißen, wallenden Kleider in die Mengpo-Halle geschneit kam. Er ging mit ausdrucksloser Mine zum Buffet und begann sich eine kleine Auswahl an Gerichten auszusuchen.

Mehr als tausend Leute aßen gerade in der Halle, doch nur ein einziger Chu Wanning reichte aus, damit sich hier eine Stille niederlegte wie auf einem Totenacker. Jeder knabberte an seinen Brötchen oder drehte unbehaglich die Stäbchen hin und her. Wenn mal jemand sprach, tat er es überaus leise und vorsichtig.

Shi Mei seufzte leicht, während er auf Chu Wanning blickte, der in seine üblichen Ecke ging und dort schweigend seinen Haferbrei aß: „Wisst ihr, manchmal glaube ich, Shizun ist bisweilen wirklich zu bedauern.“

Mo Rans Augenbrauen schossen nach oben: „Wie das denn?“

Na, sieh doch: Niemand geht auch nur in seine Nähe. Als er rein gekommen ist, waren alle sofort still. Niemand wagt es laut zu sprechen, wenn er dabei ist. Wenn unser Sektenleiter da ist, klappt das ja noch irgendwie, aber ohne ihn hat Shizun niemanden, mit dem er reden kann. Ist das denn nicht einsam?“

Mo Ran schnaubte: „Er kriegt doch nur, worum er gebeten hat. Selber Schuld.“

Xue Meng brauste sofort wieder auf: „Du wagst es, dich über Shizun lustig zu machen?“

Wo habe ich mich denn gerade über ihn lustig gemacht? Ich habe nur die Wahrheit gesagt.“ Mo Ran legte ein weiteres Brötchen auf Shi Meis Teller. „Wer würde denn auch gerne mit ihm abhängen, wenn er ständig so schlechte Laune hat?“

Du-!“

Hast du ein Problem mit mir?“ Mo Ran sah Xue Meng mit diebischer Freude an. „Dann geh doch rüber und setz dich zu Shizun. Du musst nicht bei uns bleiben.“

Das brachte Xue Meng schließlich zum Schweigen.

Selbst wenn er Chu Wanning verehrte, so fürchtete er ihn mehr als alle anderen. Peinlich berührt und genervt, aber dennoch unfähig dagegen zu argumentieren, blieb ihm nichts weiter übrig, als sauer an die Beine des Tisches zu treten und dann still im eigenen Saft schmoren.

Ein Anflug an Selbstgefälligkeit stahl sich auf Mo Rans Gesicht. Er blickte den kleinen Phönix herausfordernd an und warf dann Chu Wanning durch die Menge hindurch einen langen Blick zu. Als er nun auf diese einsame weiße Figur inmitten eines Raumes aus dunkelblauen, mit Silber durchsetzen Rüstungen sah, musste er plötzlich daran denken, wie dieser Mann in der letzten Nacht über das kalten Metall gebeugt eingeschlafen war.

Shi Mei hatte Recht: Chu Wanning war wirklich bemitleidenswert.

Aber was sollte ihn das kümmern? Je bemitleidenswerter er war, umso glücklicher würde Mo Ran sein. Allein bei dem Gedanken daran, bogen sich seine Mundwinkel zu einem noch breiteren Lächeln.

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Die Tage verstrichen wie im Flug.

Chu Wanning befahl ihm nicht noch einmal, zum Roten Lotos Pavillon zu kommen. Mo Rans tägliche Strafarbeiten bestanden nun aus leichten Aufgaben wie Tellerwaschen, die Hühner und Enten, die Madam Wang sich hielt, zu füttern und ihren Kräutergarten von Unkraut zu befreien. Das alles war viel entspannter.

Mit nur einem Wimpernschlag war seine einmonatige Strafperiode auch schon vorbei.

An diesem Tag hatte ihn Madam Wang zur Halle der Treue gerufen. Sie strich ihm über den Kopf und fragte: „A-Ran, wie geht es deinen Wunden?“

Mo Ran lächelte: „Tut mir leid, dass ich dir Sorgen bereitet habe. Ich bin wider völlig okay.“

Das ist schön. In Zukunft solltest du vorsichtiger sein. Mach nicht noch mal einen solchen Fehler, der deinen Shizun so erzürnen wird, ja?“

Mo Ran war ziemlich gut darin, das unschuldige Opfer zu spielen. Zerknirscht sagte er: „Ich weiß, Tantchen.“

Eins noch.“ Madam Wang nahm einen Brief von ihrem kleinen Tisch aus duftendem Rosenholz. „Es ist jetzt ein Jahr her, seit du der Sekte beigetreten bist, was heißt, dass es nun an der Zeit ist, dass du selber Aufträge im Dämonenaustreiben übernimmst. Gestern hat dein Onkel diesen Brief mit einer Taube geschickt. Wenn die Zeit deiner Buße vorbei ist, möchte er, dass du den Berg hinunter gehst und diese Mission hier erfüllst.“

Einer der Bräuche im Sisheng Peak sah vor, dass die Schüler, nachdem sie für ein Jahr in der Sekte gelebt hatten, in die Welt hinaus ziehen und praktische Erfahrungen im Dämonen-Bekämpfen sammeln sollen. Bei ihrer ersten Mission würde ihr Shizun noch mitkommen, um sie zu überwachen und nötigenfalls einzugreifen. Zudem musste der Schüler auch noch einen seiner Freunde mitnehmen, um die Kameradschaft zu stärken und einen der Leitsätze des Sisheng Peaks zu vertiefen: Ein treues Herz wird nicht wanken – egal ob nun im Leben oder Tod.

Mo Rans Augen leuchteten auf. Er nahm den Brief, riss ihn auf und las ihn hastig und freudestrahlend durch.

Madam Wang fragte besorgt: „A-Ran, dein Onkel wünscht sich für dich, dass du dir mit dieser Mission einen Namen machen kannst. Deshalb hat er dir eine Menge Verantwortung übertragen. Der Älteste Yuheng ist ein sehr mächtiger Kultivierer, aber er ist in einem Kampf auch sehr rücksichtslos und wird dich vielleicht nicht unbedingt gut beschützen können. Sei nicht zu übermütig, und sieh zu, dass du deinen Gegner nicht unterschätzst.“

Nein, nicht doch!“, rief Mo Ran grinsend, während er ihre Worte mit einem Winken abtat. „Sei unbesorgt, Tantchen. Ich kann auf mich selbst aufpassen.“ Nachdem er das gesagt hatte, war er schon auf und davon, um zu packen.

Dieser Junge…“ Madam Wang sah ihm hinterher, ihr sanftes und schönes Gesicht war voller Zweifel. „Wie kann ihn eine einfache Mission nur so glücklich machen?“

Wie könnte Mo Ran auch nicht glücklich sein?

Die Mission, die sein Onkel ihm zugedacht hatte, kam von einem gewissen Beamten mit dem Nachnamen Chen. Es ging darum, einem Vorfall in der Stadt Caidie zu untersuchen.

Doch wen kümmerte es schon, was für eine Art Geist oder Dämon sie dort erwartete? Für ihn war nur von Belang, was sich dort in seinem früheren Leben ereignet hatte: Bei dieser Mission war er in den Bann eines Dämons geraten, er hatte sich in eine Illusion der Bestie locken lassen und war zeitweise nicht bei Sinnen gewesen. Und so hatte er, während er noch in dieser Illusion gefangen saß, Shi Mei gewaltsam geküsst. Dies war einer der wenigen Momente des letzten Lebens gewesen, in denen Mo Ran seinem Liebsten so nah gekommen war – und ja, das war wirklich niederschmetternd und beschämend! Daher fühlte er sich auch gerade, als würde er vor Glück auf Wolke Sieben schweben.

Was noch dazu kam: Weil Shi Mei ebenfalls verhext worden war, hatte er sich nicht gegen Mo Ran wehren können und sich danach auch an nichts mehr erinnert. Ein freier Kuss! Ohne Konsequenzen!

Mo Rans Augen bogen sich zu kleinen Halbmonden. Es war ihm sogar egal, dass Chu Wanning ebenfalls bei der Mission dabei sein würde. Sollte sich doch sein Meister um die Dämonen kümmern, während er mit Shi Mei flirten konnte. Also noch mal: Wie könnte er sich über einen so leichten Job nicht freuen?

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Nachdem er Shi Mei zu dieser Mission eingeladen und seinen Shizun Bericht erstattet hatte, ritten die drei umgehend auf Pferden nach Caidie, um das Böse dort zu vertreiben und den Menschen in ihrer Not zu helfen.

Diese Stadt war vor allem für seine reiche Fülle an Blumen bekannt. Ganze Blütenfelder erstreckten sich über dutzende Meilen vor der eigentlichen Stadtgrenze und sie waren so üppig, dass sie immer von Wolken an Schmetterlingen umgeben waren – woher auch der Name stammte.

Als die drei dort eintrafen, war es bereits Nacht. Dennoch gab es am Stadttor ein geschäftiges und fröhliches Treiben. Trommeln und Musik erklang und eine Reihe an Musikanten, die in weite, rote Gewänder gekleidet waren, kamen aus einer Gasse heraus und bliesen in ihre Suona-Hörner.

Shi Mei fragte verwundert: „Ist das eine Hochzeit? Warum wird sie denn mitten in der Nacht gefeiert?“

Dies ist eine Geister-Hochzeit“, erklärte Chu Wanning.

Eine Geisterhochzeit… Dies war eine Tradition des einfachen Volkes, bei der ein Mann und eine Frau verheiratet wurden, die bereits verstorben waren. Man nannte sie auch gerne Yin-Hochzeit. In ärmeren Regionen war dieser Brauch nicht sehr verbreitet, aber Caidie war recht wohlhabend, also kam es nicht selten vor, dass man verstorbene Jungs und Mädchen nach dem Tod noch miteinander vermählte.

Der Hochzeitsmarsch war unglaublich groß und verlief in zwei Reihen. Die Menschen der einen trugen Stoffballen aus echter Seide und Satin, die andere aber nur solche aus Papier. Sie alle folgten einer Einzelsänfte, die mit roten und weißen Bändern geschmückt war und gewiss so viel wie acht Personen wiegen musste. Erhellt vom Schein der goldenen Laternen geleiteten sie die Sänfte aus dem Dorf hinaus.

Mo Ran zog an den Zügeln seines Pferdes und dirigierte es zur Seite, sodass sie die Prozession vorbei lassen konnten. Als sich ihnen die Einzelsänfte nährte, erkannte er, dass dort drin keine lebende Person saß, sondern eine Geisterbraut aus Pappmachè. Das Gesicht diese Puppe war mit weißer Schminke und Puder bedeckt. Man hatte ihre Lippen blutrot bemalt und die zwei roten Punkte auf ihren Wangen betonten ihr kreideweißes Gesicht noch mehr. Ihr Lächeln wirkte ziemlich gruselig.

Was für ein dummer Brauch. Alles, was sie hier machen, ist Geld zu verbrennen“, murmelte Mo Ran in sich hinein.

Die Einwohner von Caidie sind sehr abergläubisch“, sprach Chu Wanning, „und sie glauben, dass niemand alleine bestattet werden sollte. Einzelgräber würden einsame Geister und streunende Seelen anziehen und der Familie Unglück bringen.“

„… Das ist doch nicht wirklich so, oder?“

Solange die Bewohner der Stadt es glauben, ist es für sie Wirklichkeit.“

Mo Ran seufzte. „Ja, wahrscheinlich. Caidie existiert schon seit hunderten von Jahren. Wenn ich ihnen jetzt sagen würde, dass das Böse, woran sie glauben, gar nicht existiert, würden sie das wohl nicht akzeptieren wollen.“

Wohin führt der Hochzeitszug?“, fragte Shi Mei mit leiser Stimme.

Auf unserem Weg hierher sind wir an einem steinernen Tempel vorbei gekommen“, erklärte Chu Wanning. „Der Tempel war keinem Gott oder Buddha geweiht. Doch über der Tür war das Schriftzeichen für „geteiltes Glück“ eingekerbt, was auch als Synonym für die Heirat verwendet wird. Auf dem Altar hatte man rote Satintücher aufgestapelt und auf ihnen allen standen Glücksbotschaften wie Eine vom Himmel gesegnete Verbindung oder Ewige Harmonie fürs Jenseits. Ich nehme mal an, dass dies ihr Ziel ist.“

Der Tempel ist mir auch aufgefallen“, sagte Shi Mei nachdenklich. „Shizun, wird dort vielleicht der Geist einer Zeremonienmeisterin für Hochzeiten verehrt?“

Gut möglich.“

Der Geist einer Zerimonienmeisterin war ein göttliches Wesen, welches aus der Vorstellungskraft und dem Glauben des einfachen Volkes geschaffen wurde. Die Leute hier waren überzeugt davon, dass die verstorbenen Seelen, die verheiratet werden sollten, ebenfalls alle Bräuche einer normalen Heirat absolvieren mussten. Somit brauchte auch eine Geisterhochzeit drei Trauzeugen und sechs Hochzeitsgeschenke und alle nötigen Einladungsschreiben – aber auch den Geist einer Zeremonienmeisterin, die als Zeugin bestätigen konnte, dass die zwei Toten zu Mann und Frau geworden waren.

Und wegen all dieser Bräuche hatte Caidie natürlich auch eine goldene Statue vom Geist ihrer Zeremonienmeisterin gleich am Friedhofstor vor der Stadt errichtet. Die Familien, die die Geisterhochzeiten veranstalteten, musste die Braut immer erst zu diesem Tempel führen, um der Gottheit zu huldigen.

Mo Ran hatte selten so einen absurden Brauch erlebt, daher betrachtete er all das mit großem Interesse, aber Chu Wanning warf der Prozession nur einmal einen kalten Blick zu. Er zog den Kopf seines Pferdes herum und sagte: „Lass uns gehen. Wir müssen zu der Familie, die von den Geistern heimgesucht wird.“

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Oh, ihr drei mächtigen Kultivierer, mein Leben ist wirklich hart! Endlich seid ihr gekommen! Wenn sich nicht bald jemand eingefunden hätte, um dieses Problem zu lösen, dann hätte ich n-nicht mehr leben wollen!“

Die Person, die dem Sisheng Peak den Auftrag zur Geisteraustreibung geschickt hatte, war der reichste Kaufmann der Stadt: Mr Chen.

Die Chen-Familie hatte ihr Glück in der Herstellung von Duftstoffen gemacht. Es gab vier Söhne und eine Tochter. Nachdem der Heirat des ältesten Sohnes, hatte sich seine Frau an all dem geschäftigen Treiben im Haus ihrer Schwiegereltern gestört, und so hatte das junge Paar entschieden, dass es ausziehen und ihr eigenes Gewerbe aufbauen wollte. Die Familie der Chen war reich und einflussreich, also konnten sie ein großes Stück Land in einem abgelegenen Teil des Berges im Norden der Stadt kaufen. Diese Gegend galt allgemein als ein Ort mit vielen Vorzügen – dort gab es sogar eine natürliche, heiße Quelle, die bei Gästen wohl besonders beliebt sein würde.

Doch schon am ersten Tag der Erdabtragung für den Bau konnten sie nur einige Schaufelstiche tief in den Berg hinein graben, ehe sie auf einen harten Gegenstand stießen. Die Frau des ältesten Sohnes wollte sich das näher ansehen, doch nach nur einem Blick wurde sie vor Schreck ohnmächtig. In den nördlichen Bergen hatten sie einen brandneuen Sarg ausgegraben, der mit einer roten Lackschicht überzogen war!

Eigentlich hatte die Stadt Caidie einen festen Friedhof, wo alle verstorbenen Bewohner bestattet wurden. Aber dieser einsame Sarg war unerwartet in den nördlichen Bergen aufgetaucht. Was noch dazu kam: Es gab weder einen Grabstein noch eine Inschrift, und das Holz des Sarges war blutig rot gestrichen.

Sie wagten es nicht, noch tiefer zu graben, und hatten nur schnell die Erde wieder auf den Sarg geworfen – doch es war bereits zu spät. Von diesem Tag an hatte die Familie Chen das Unglück heimgesucht.

Zuerst war da meine Schwiegertochter“, klagte Mr Chen. „Sie hatte solche Angst, dass es sich auf die Schwangerschaft ausgewirkt hat und zu einer Fehlgeburt führte. Danach traf es meinen ältesten Sohn. Er war in die Berge gegangen, um Kräuter zu sammeln, die seiner Frau helfen würden, aber dabei rutschte er mit seinem Fuß aus. Er strauchelte und fiel den Berg hinunter. Als wir ihn endlich fanden, hat er schon nicht mehr geatmet… Ah!“ Er stieß ein langgezogenes Klagelaut aus und konnte offenbar nicht mehr weiter sprechen, wedelte nur noch mit der Hand durch die Luft.

Auch Madam Chen zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Augen, bevor sie nun das Wort ergriff: „Mein Ehemann hat recht. In den darauf folgenden Monate erlitten unsere Söhne einer nach dem anderen seltsame Unfälle oder verloren ihr Leben – von vier Söhnen sind nun schon drei nicht mehr unter uns!“

Chu Wanning runzelte die Stirn, sein Blick wanderte über das Elternpaar und blieb dann an dem blassen, jüngsten Sohn hängen. Er sah aus, als könnte er etwa in Mo Rans Alter sein – um die fünfzehn oder sechzehn Jahre. Er hatte hübsche, feingliedrige Züge, auch wenn sein Gesicht gerade vor Angst verzerrt war.

Könntet Ihr mir bitte erzählen, wie eure anderen Söhne…“, fing Shi Mei an. Er zögerte kurz. „… wie sie verstarben?“

Unser zweite Sohn war gegangen, um seinen großen Bruder zu suchen. Dabei wurde er von einer Schlange gebissen. Es war nur eine einfache Grasnatter, die ja gar nicht giftig ist. Niemand hat zu dem Zeitpunkt groß darüber nachgedacht, aber nach ein paar Tagen, ist er beim Essen plötzlich zusammen gebrochen, und dann… Ahh, mein Junge…“ Sie schluchzte.

Shi Mei seufzte und konnte es kaum ertragen, noch weiter zu fragen: „Und hat der Junge denn irgendwelche Anzeichen einer Vergiftung gezeigt?“

Ah, woher sollte das Gift denn kommen? Unsere Familie muss verflucht sein! Die ersten Söhne sind verstorben und der Nächste wird unser Jüngste sein! Ich sage es euch: Der Nächste ist unser Jüngster!“

Chu Wanning runzelte die Stirn noch weiter. Seine Augen bohrten sich wie zwei Blitze in Madam Cheng, als er fragte: „Woher wissen Sie, dass es als nächstes ihn treffen wird? Warum nicht Sie?! Tötet der Geist etwa nur Männer?“

Der jüngste Sohn der Chens saß zusammen gekrümmt da, seine Beine zitterten und seine Augen waren geschwollen und rosig wie Pfirsiche. Als er nun den Mund öffnete, klang seine Stimme schrill und verzerrt: „Es wird mich treffen! Es wird mich treffen! Die Person in dem roten Sarg wird kommen! Sie wird kommen! Daozhang, Daozhang, helfen Sie mir! Oh bitte, Daozhang, bitte helfen Sie mir!“

Als er sich so sehr rein steigerte, begann er immer mehr die Kontrolle zu verlieren und er stolperte auf Chu Wanning zu, um seine Oberschenkel zu umklammern.

Chu Wanning, der es nicht mochte, wenn er zum plötzlichen Hautkontakt mit Fremden gezwungen wurde, wich sofort zurück. Er hob den Kopf, und starrte auf das Elternpaar: „Was genau soll das bedeuten?“

Die beiden Alten sah einander an und schließlich sprach Mr Chen mit zitternder Stimme: „Es gibt einen Ort in diesem Haus, den wi-wir nicht mehr zu betreten wagen – Daozhang, Ihr werdet verstehen, wenn Ihr es seht. Dort herrscht wahrhaftig das Böse, dort ist…“

Wo?“, unterbrach Chu Wanning sie.

Sie zögerten noch kurz, streckten dann aber die Hände aus und deuteten zittrig auf den Raum, in dem die Vorfahren geehrt wurden: „Dort…“

Chu Wanning übernahm die Führung und ging hinüber, dicht gefolgt von Mo Ran und Shi Mei. Die Familie der Chen kam ihnen im Schlepptau und mit leichtem Abstand nach.

Man schloss die Tür auf und sie betraten einen Raum, der sich nicht sehr von einem Schrein für die eigenen Hausgötter unterschied, in dem große Familien den Göttern und Vorfahren kleine Opfer brachten. Einige Reihen spiritueller Gedenktafeln waren im Inneren des Raumes aufgestellt und sie wurden auf beiden Seiten von großen, bleichen Kerzen erleuchtet.

Jede Holztafel in dem Zimmer war mit gelber Farbe bestrichen und in ihr waren der Name und die Position des Verstorbenen aus der Familie eingeritzt. Die Schriftzeichen waren sehr sauber und ordentlich und die Inschriften folgten immer demselben Muster: Der ehrwürdige Geist des Vorfahren XY; der Ehrwürdige Geist des Vorfahren YZ, und so weiter und so fort

Doch in der Raumesmitte stand ein Tischchen mit einer Holztafel, in der die Worte nicht eingeritzt, sondern mit leuchtend roter Farbe aufgemalt worden waren: Für den Geist von Chen Yanji. Errichtet von einem lebenden Mitglied des Chen-Sun-Clans.

Diese Tafel war deutlich anders als der Rest. Zum einen entsprach die Inschrift nicht den traditionellen Gedenkspruch einer Ahnenhalle. Zum anderen waren die Zeichen auf der Tafel schief und verdreht, und wirkten eher, als seien sie von jemanden geschrieben worden, der halb geschlafen hatte. Die Zeichen waren fast schon unleserlich.

Die Familie der Chen, die sich die ganze Zeit hinter ihnen versteckt gehalten hatte, spähte nun auch in die Ahnenhalle, in der die weißen Seidenbahnen unheilvoll von der Decke schwangen. Vielleicht hofften sie ja auf ein Wunder, dass die Tafel weg sein würde. Doch als sie die Worte erblickten, die scheinbar mit Blut auf das Holz geschrieben worden waren, brachen sie alle sofort zusammen.

Madam Chen wehklagte laut. Das Gesicht ihres jüngsten Sohnes war so bleich, dass es von der Farbe her eher dem einer Leiche glich.

Shi Mei wandte den Kopf und fragte: „Wer ist Chen Yanji?“

Der jüngste Sohn der Familie weinte hinter ihnen, seine Stimme brach vor Schluchzern, als er sagte: „Das bin ich.“

Mr Chen weinte auch: „Ihr ehrwürdigen Kultivierer, so stehen die Dinge. Seit unser Zweitältester verstorben war, haben wir gemerkt, dassdass eine weitere Gedenktafel in unsere Ahnenhalle hinzu gekommen war – doch auf dem Siegel stand der Name eines noch lebenden Familienmitglieds! Sobald der Name dort erschien, hat diese Person innerhalb von sieben Tagen das Unglück ereilt! Als der Name unseres dritten Sohns auf der Tafel auftauchte, habe ich ihn im Haus eingesperrt und die Tür mit der Asche von Räucherstäbchen bestrichen. Ich habe sogar jemanden gefunden, der einen Schutzzauber darauf gelegt hat. Wir haben alles versucht! Aber am siebten Tag… war auch er tot! … ohne Grund, einfach so!“ Je mehr er sprach, umso mehr geriet er in Rage, doch umso verängstigter wurde er auch, und er fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die Knie: „Ich habe niemals auch nur irgendetwas Falsches in meinem Leben getan, was die Götter erzürnen könnte. Warum nur muss der Himmel mich so strafen?! Warum!?“

Shi Mei sah ihn traurig an und ging schnell zu ihm hinüber, um den weinenden, alten Mann, zu trösten. Er hob den Kopf hob und rief sanft: „Shizun, so komm doch…“

Chu Wanning drehte sich noch nicht einmal um. Er starrte noch immer mit einer solchen Intensität auf die Gedenktafel, als würde er erwarten, dass jeden Moment eine Blume aus dem Holz sprießen würde.

Plötzlich fragte er: „Ein lebendes Mitglied des Chen-Sunshi-Clansbezieht sich dieser Satz auf Euch, Madam Chen?“


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Youcha-Suppe: Youcha-Suppe: Bedeutet übersetzt so viel wie „öliger Tee“. Anstelle der Brühe nimmt man gekochten Tee, den man aber mit Gewürzen und frittiertem Gemüse zu einer Suppe verkocht.

Sprichworterklärung: Dieser Leitspruch greift Örtlichkeiten der Sekte auf. So wird „treues“ mit demselben Schriftzeichen wie in „Halle der Treue“ geschrieben und „Leben und Tod“ wird im Chinesischen „sisheng“ ausgesprochen – wie im Sektenname „Sisheng Peak“.

Caidie: bedeutet übersetzt soviel wie „farbenfroh“ aber auch „Schmetterling“.

Suona-Horn: Ein Blasinstrument, das von der Form eher einer langen Tröte gleicht und nur eine Tonlage spielen kann.

-daozhang: Ebenso wie Xianjun ist Daozhang eine höfliche, geschlechtsneutrale Anrede für einen Kultivierer. Xianjun ist aber noch ein wenig höflicher, da sie impliziert, dass der Angesprochene ein sehr mächtiger Kultivierer ist, der bereits die Unsterblichkeit erlangt hat.


Für alle, die die englische Originalübersetzung kennen: Ihr wundert euch vielleicht, warum ich den Ort dieser ersten Mission nicht "Schmetterlingsstadt" nenne (engl.: butterfly town). Ich war arg in Versuchung, doch tatsächlich belasse ich die meisten Dorf- und Städtenamen in der chinesischen Originalbezeichnung (wie bei der Stadt Wuchang). Also wird es bei Caidie bleiben, was auch nicht ganz so gestelzt wie "Schmetterlingsstadt" klingt. Im Glossar findet ihr diesen Namen auch - falls man im späteren Verlauf der Geschichte nicht mehr weiß, was es mit Caidie auf sich hat.


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