Kapitel 07 - Dieser Ehrwürdige mag Wontons
Chu Wanning kennt kein Erbarmen, als er die Strafe für Mo Rans Taten beschließt, und am nächsten Tag wird Mo Ran zur Plattform der Sünde und Tugend gebracht, um dort vor der ganzen Sekte gezüchtigt zu werden!
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körperliche Bestrafung (Stockhiebe), Wunden, Verhör
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Die sengende Sonne strahlte brennend vom Himmel hinab auf das weite Gelände des Sisheng Peaks, die sich mehrere Meilen über den Berg erstreckten.
Als neuer, aufstrebender Stern in der Welt der Kultivierung unterschied sich diese kleine Sekte doch sehr von den großen der oberen Kultivierungswelt.
Man nehme zum Beispiel die strahlendste unter ihnen: die Rufeng Sekte aus Linyi. Deren große Haupthalle wurde die „Halle der sechs Tugenden“ genannt, was die Schüler bestärken sollte, in völligem Einklang mit den sechs Tugenden zu leben und weise, pflichtbewusst, erhaben, rechtschaffen, mildtätig und loyal zu sein. Der Bezirk, in dem die Schüler lebten, trug den Namen „Pforte der sechs Umgangsformen“, der die Schüler ermahnen sollte, erstens kindliche Ehrerbietung für die Eltern, zweitens die Kameradschaft mit den Gleichaltrigen, drittens Harmonie mit den Nachbarn, viertens Respekt für den Ehepartner, fünftens Verantwortung für die gesellschaftlichen Pflichten und sechstens Mitgefühl den Massen gegenüber zu haben. Der Ort, an dem unterrichtet wurde, nannte man die „Plattform der sechs Künste“, was wieder implizierte, dass die Schüler in den sechs Meisterschaften des Rituals, der Musik, des Bogenschießens, der Reitkunst, der Kalligraphie und der Mathematik bewandert sein müssen.
Alles in allem, strahlten diese Namen eine endlose Eleganz aus.
Und auf der anderen Seite stand nun der Sisheng Peak, den man aus ärmlichen Verhältnissen aufgebaut hatte, und dessen Namen … etwas eigenwillig waren, um es freundlich auszudrücken. „Die Halle der Treue“ und die „Plattform der Sünde und Tugend“ waren von der Bezeichnung her ja noch in Ordnung. Aber vielleicht lag es daran, dass Mo Rans Vater und sein Onkel keine sonderlich gebildeten Männer gewesen waren, und sie sich einfach nicht so viele anständige Namen auszudenken konnten – denn nach einigen ersten Versuchen hatten sie es auch schon aufgegeben und die Namen wurden immer alberner und skuriler. Und als Ergebnis erhielt man das, was eben dabei heraus sprang, wenn jemand, der einem Jungen einen Namen wie „Xue Ya“ gibt, sich links und rechts Namen für bestimmte Orte ausdenken soll.
Daher gab es auf dem Sisheng Peak recht viele Namen mit irgendeinem Bezug zur Unterwelt. Zum Beispiel wurde das Haus, in dem die Schüler über ihre Vergehen nach sinnen sollten, „Yanlou-Halle“ genannt.
Die Jadebrücke, die die Schlafquartiere mit der Schulstätte verband, nannte sich „Naihe-Brücke“. Der Speisesaal trug den Namen „Mengpo-Halle“, die Plätze für den Trainingskampf nannten sich „Klingenberg und Flammenmeer“. Die verbotene Zone auf der Rückseite des Berges wurde der „Geisterraum“ genannt, und so weiter und so fort.
Auch diese Namen waren nicht so übel, aber es gab auch noch andere Orte, die einfach nur „Das ist ein Berg“, „Das ist ein Gewässer“, „Das ist eine Grube“ hießen, und dann natürlich noch die berühmt berüchtigten Klippen „Ahhhh“ und „Wahhhh“.
Auch die Quartiere der Ältesten blieben davon nicht verschont, und jeder bekam seinen eigenen Spitznamen.
Selbstverständlich war Chu Wanning da keine Ausnahme. Er mochte den Frieden und lebte nicht gerne in unmittelbarer Nähe zu anderen. Sein Anwesen war auf dem südlichsten Gipfel des Sisheng Peaks errichtet worden, gut versteckt in einem Bambuswäldchen, das von oben gesehen an ein Meer aus grüner Jade erinnerte. Es gab einen großen Teich gleich vor dem Hauptgebäude, in welchem man rote Lotos-Blumen angepflanzt hatte. Es waren besondere Pflanzen, die über eine große Fülle an spiritueller Kraft verfügen und so standen sie das ganze Jahr über in voller Blüte, und trieben wie rote Wolken im Wasser.
Die Schüler nannten diesen wunderschönen und malerischen Ort im Geheimen: Die Rote-Lotos-Hölle.
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Als Mo Ran daran dachte, konnte er nicht anders, als zu kichern. Chu Wanning trug jeden Tag ein furchterregendes, säuerliches Gesicht zur Schau, und die Schüler, die ihn erblickten, dachten wohl, er sei der leibhaftige Teufel. Und was wäre passender, als den Ort, wo dieser Teufel hauste, eine Hölle zu nennen?
Xue Meng holte Mo Ran aus seine Gedanken zurück: „Zum Teufel, weswegen kannst du jetzt noch kichern? Beeil dich und beende dein Frühstück. Wenn du fertig bist, wirst du mir zur Plattform der Sünde und Tugend folgen. Hast du vergessen, dass Shizun dich heute vor allen und jedem bestrafen wird?“
Mo Ran seufzte und berührte die Schramme von der Peitsche auf seinem Gesicht: „Hss… Autsch.“
„Geschieht dir recht!“
Mo Ran seufzte: „Ah, ich frag mich, ob Tianwen schon wieder repariert ist. Ich hoffe sehr, dass er nicht wieder versucht, es an mir auszuprobieren, ehe damit nicht alles wieder in Ordnung ist. Wer weiß, was ich sonst noch für Blödsinn sagen könnte.“
Angesichts von Mo Rans ernst gemeinten Befürchtungen, lief Xue Mengs Gesicht rot an und er rief zornig: „Wenn du es auch nur wagen solltest, so unzüchtig vor allen Leuten mit Shizun zu sprechen, werd’ ich dir deine Zunge raus reißen!“
Mo Ran bedeckte sein Gesicht und wedelte leichthin mit der Hand: „Nicht nötig, nicht nötig. Wenn Shizun mich noch einmal mit dieser Weidenranke fesselt, bring ich mich lieber selber um, um meine Unschuld zu beweisen.“
Zur entsprechenden Stunde, wurde Mo Ran, wie es Brauch war, zur Plattform der Sünde und Tugend geführt. Er sah sich um, und unter sich konnte er ein tiefblaues Meer an Menschen sehen. Die Schüler des Sisheng Peaks trugen alle die Uniform der Sekte: Eine so dunkelblaue Rüstung, dass sie fast schon schwarz wirkte, einen Gürtel mit einer Schnalle in Form eines Löwenkopfes, Handschützer und Kleider, die am Saum mit silbernen Fäden durchzogen waren.
Im Osten ging gerade die Sonne auf und sie brach sich schimmernd auf den Rüstungen dieses Ozeans unterhalb der Plattform der Sünde und Tugend.
Mo Ran kniete sich auf der hohen Plattform nieder und hörte zu, wie der Älteste Jielü, der für die Disziplinarmaßnahmen zuständig war, die lange Liste der Verbrechen, die er begangen hatte, vorlas.
„Mo Weiyu, der Schüler des Ältesten Yuheng, hat voller Arroganz die ihm vorgetragenen Lehren missachtet, er hat die Regeln der Sekte übertreten und sich von jeder Moral abgewandt. Er hat das vierte, neunte und fünfzehnte Gebot der Sekte verletzt. Als Strafe wird er 80 Stockhiebe erhalten, das Regelwerk der Sekte einhundert Mal abschreiben und einen ganzen Monat lang vom normalen Unterricht ausgeschlossen werden und stattdessen Strafarbeiten verrichten. Mo Weiyu, gibt es noch irgendetwas, das du zu deiner Verteidigung sagen willst?“
Mo Ran warf der weiß-gewandeten Figur, die in einiger Entfernung von ihm saß, einen Blick zu. Dieser Älteste war das einzige Mitglied des Sisheng Peaks, von dem man nicht verlangte, die sektentypische blaue Tracht mit dem silbernen Saum zu tragen. Chu Wannings Kleider waren aus schneeweißem Satin, über denen er eine äußere Robe trug, die ein Wolkenmuster aus silberner Seide schmückte. Es wirkte ganz so, als wäre er in himmlischen Frost gekleidet – auch wenn die Person, die diese Sachen trug, viel kälter schien als jedes Eis oder Schnee. Er saß still da, weit genug von Mo Ran entfernt, sodass dieser den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen konnte, aber er wusste, dass dieser Mann wahrscheinlich vollkommen unbeeindruckt war.
Mo Ran seufzte einmal schwer. „Ich habe dem nichts hinzu zu fügen.“
Wie es Sitte war, fragte der oberste Älteste nun die Schüler unter ihnen: „Wenn irgendjemand mit diesem Urteil nicht einverstanden ist, oder noch etwas dazu sagen möchte, ist dies nun die Zeit, zu sprechen.“
Die Schüler waren unruhig und vermieden den Blick zur Bühne. Keiner von ihnen hatte wirklich erwartet, dass der Älteste Yuheng, Chu Wanning, seinen Schüler zur Plattform der Sünde und Tugend schicken würde, um ihn dort öffentlich bestrafen zu lassen. Um es milde auszudrücken, war dieses Benehmen sehr streng, unparteiisch und objektiv, aber mit etwas anderen Worten konnte man ihn auch einen kaltblütigen Dämon nennen.
Den kaltblütige Dämon namens Chu Wanning umgab, wie er dort so auf seinem Platz saß und seine Wange in die eine Hand gestützt hatte, ein Hauch an Desinteresse. Plötzlich rief jemand unten zu ihnen hinauf; die Stimme wurde durch einen Zauber verstärkt und klang sehr laut: „Ältester Yuheng, dieser Schüler hier möchte zugunsten von Mo-shidi um Nachsicht bei der Strafe bitten.“
„Ist das so?“
Der Schüler meinte wohl, dass Mo Rans Chancen auf eine glorreiche Zukunft, da er der Neffe des Sektenleiters vom Sisheng Peak war, immer noch gut standen, selbst wenn er es diesmal vermasselt hatte. Und daher hatte er beschlossen, nun diese Gelegenheit zu nutzen und Mo Rans Gunst zu gewinnen. Sofort begann er allen möglichen Unsinn zu erzählen: „Auch wenn Mo-shidi Unrecht begangen hat, so liebt er doch jeden seiner Kameraden und hilft den Schwachen. Bitte lasst um seines freundlichen Wesens willen Nachsicht walten.“
Offenbar war er nicht der Einzige, der darauf hoffte, Mo-shidi gefallen zu können.
Mit der Zeit setzten sich immer mehr und mehr Leute für Mo Ran ein. Sie brachten alle möglichen Argumente vor, sodass es selbst Mo Ran irgendwann peinlich wurde, sich das mit anhören zu müssen. Wann hatte er denn jemals ein „unschuldiges Herz“ und „einen reinen und offenen Geist“ besessen? War das hier noch ein Disziplinarverfahren oder ein Wettbewerb, wer die schönsten Lobeshymnen singen konnte?
„Ältester Yuheng, Mo-shidi hat mir einmal geholfen Dämonen auszurotten und gefährliche Bestien zu töten. Ich möchte um seinetwillen Gnade ersuchen. Seine Verdienste wiegen seine Fehler auf und ich hoffe, dass der Älteste seine Strafe mildern wird!“
„Ältester Yuheng, Mo-shidi hat mir dabei geholfen, meine inneren Dämonen zu bezwingen, als ich einmal eine Schwankung meines eigenen Qi-Flusses hatte. Ich glaube, dass Mo-shidi dieses Mal einfach nur einen Fehler begangen hat und dass dies in einem Moment der geistigen Verwirrung geschah. Auch ich bitte den Ältesten, dass er mit unserem Shidi nachsichtig sein wird!“
„Ältester Yuheng, Mo-shidi hat mir einmal ein Elixier gegeben, um meine Mutter zu retten. Er ist ein tugendhafter Mann. Bitte, Ältester bestrafe ihn nicht so streng!“
Der letzten Person, die das Wort ergriff, waren, da schon so viele vor ihr gesprochen hatten, die Ideen ausgegangen, also fehlten ihr ein wenig die Worte. Als der ängstliche Schüler nun sah, wie Chu Wannings eisiger Blick über die Menge schweifte, zögerte er nicht länger und sagte: „Ältester Yuheng, Mo-shidi hat mir einmal bei der dualen Kultivierung geholf-“
„Pff!“ Irgendjemand schien sein Lachen nicht mehr zurück halten zu können.
Der Schüler lief sofort rot an und zog sich beschämt zurück.
„Yuheng, bitte beruhige dich, beruhige dich…“ Als der Älteste Jielü nun sah, wie wenig der Älteste Yuheng von dieser Botschaft erfreut war, trat er rasch an dessen Seite und versuchte ihn zu beschwichtigen.
Chu Wanning sagte nur kalt: „Noch nie habe ich so eine schamlose Person gesehen. Wie lautet sein Name? Wessen Schüler ist das?“
Der Älteste Jielü zögerte ein wenig, biss dann aber doch in den sauren Apfel und sagte leise: „Dies ist mein Schüler, Yao Lian.“
Chu Wanning hob eine Augenbraue: „Dein Schüler? Und sein Name besteht aus denselben Schriftzeichen wie Gesicht wahren?“
Dem Ältesten Jielü war das Ganze gerade ausgesprochen unangenehm, sein altes Gesicht verzog sich und er versuchte mit roten Wangen das Thema zu wechseln: „Er ist ein begabter Sänger. Das ist sehr hilfreich, wenn man Spenden sammelt.“
Chu Wanning schnaubte nur und wandte sich dann ab, als wolle er nicht noch mehr Zeit damit vergeuden, mit diesem schamlosen Ältesten Jielü zu sprechen.
Im Sisheng Peak lebten mehr als tausend Leute. Mit ein paar Speichelleckern war zu rechnen gewesen.
Als er die Überzeugung in den Gesichtern seiner Sektenbrüder sah, hätte Mo Ran ihren Worten beinah schon selbst geglaubt. Ja, das war schon beeindruckend. Wie sich heraus stellte, war er nicht der Einzige in der Sekte, der wusste, wie man sich wilde Geschichten im hellsten Tageslicht zurecht log. Hier gab es noch viele andere talentierte Menschen.
Chu Wanning, der nun schon unzählige Male das „Ältester Yuheng, bitte zeigt Gnade“ gehört hatte, richtete endlich das Wort an die Schüler: „Ihr setzt euch für Mo Weiyu ein?“ Er machte eine kurze Pause und sagte dann: „Gut, ihr alle tretet vor.“
Unsicher, was sie nun erwarten würde, stiegen die Betroffenen vor Angst und Unruhe zitternd hinauf auf die Plattform.
Ein goldenes Licht blitzte in Chu Wannings Hand auf. Tianwen erschien wie auf Kommando, es schlang sich mit einem pfeifenden Ton um das gute Dutzend Leute und band sie an Ort und Stelle fest.
Nicht schon wieder!
Mo Ran fühlte wie sich alle Hoffnung in ihm verflüchtigte. Allein der Anblick von Tianwen ließ seine Beine schwach werden. Er wusste wirklich nicht, woher Chu Wannnig solch eine perverse Waffe hatte. Es war gut gewesen, dass er in seinem früheren Leben nie eine Frau gehabt hatte. Das arme Mädchen, das ihn geheiratete hätte, wäre von ihm, wenn vielleicht nicht zu Tode gepeitscht, dann aber auf jeden Fall zu Tode verhört worden.
Chu Wannings Augen blickten fast schon spöttisch. Er fragte einen von ihnen: „Mo Ran hat dir also geholfen, böse Geister auszutreiben?“
Gegen Tianwens Folter hatte der Schüler keine Chance. Er heulte sofort auf: „Nein! Nein!“
Er fragte einen anderen: „Mo Ran hat dir geholfen, deinen fehlgeleiteten Qi-Fluss zu überstehen?“
„Ah! Das hat er nicht! Das hat er nicht!“
„Mo Ran hat dir ein Elixier gegeben?“
„Ahh-! Hilfe! Nein, nein! Ich hab gelogen! Ich hab gelogen!“
Chu Wanning lockerte seinen Griff um ihre Fessel, doch dann hob er die Hand und schwang seine Waffe brutal nach oben, sie knackte und loderte, und dann schoss Tianwen nieder und schlug auf die Rücken der verlogenen Schüler ein.
Sofort gellten Schreie und das Blut spritzte.
Chu Wannings Augenbrauen zogen sich zusammen und er schimpfte: „Jetzt schreit ihr wohl, was? Auf die Knie mit euch! Aufseher!“
„Hier.“
„Führe die Strafe aus!“
„Verstanden!“
Das Resultat war also, dass jeder, anstatt die Vorteile einzuheimsen, die eine Verteidigung von Mo Weiyu mit sich bringen würden, mit zehn Stockhieben auf den Rücken belohnt wurde, weil sie das Gebot zur Täuschung verletzt hatten – und sie bekamen noch eine Runde gratis Peitschenhiebe vom Ältesten Yuheng dazu.
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Als die Nacht herein brach, lag Mo Ran auf seinem Bett. Auch wenn man ihm Salben und Medizin gegeben hatte, so war sein Rücken immer noch mit einem Zick-Zack-Muster an Malen und Wunden übersät. Er konnte sich noch nicht einmal herum drehen, ohne nicht fast schon vor Schmerzen aufzuschreien. Er schniefte und seine Augen wurden feucht.
Er war wiedergeboren worden und steckte nun in seinem jüngeren Körper, und wenn er nun so vor sich hin winselte, ließ ihn das wie einen flauschigen, verstoßenen Welpen wirken. Es war wirklich schade, dass seine Gedanken überhaupt nicht dem Bild eines süßen Welpen entsprechen wollten.
Er packte das Bettzeug und biss sich in dem Laken fest, während er sich vorstellte, dass das dieser Bastard Chu Wanning war. Er biss. Er trat um sich. Er stampfte mit dem Fuß auf. Er riss daran!
Sein einziger Trost war, dass ihn Shi Mei besuchen kam und er eine Schüssel Wontons mitbrachte. Er sah auf ihn hinab, mit diesen sanften und mitleidigen Augen, und Mo Rans Tränen begannen nur noch heftiger zu fließen.
Er kümmerte sich nicht darum, ob Männern nun weinen sollten oder nicht – er liebte es einfach, vor der Person, die er mochte, wehleidig zu wirken und sich von ihm verwöhnen zu lassen.
„Tut es immer noch so weh? Kannst du dich aufsetzen?“ Shi Mei setzte sich auf die Kante des Bettes und seufzte. „Shizun, er… er war zu hart mit dir. Sieh dir nur deinen Rücken an… das sind schlimme Wunden. Einige von ihnen bluten noch.“
Mo Rans Herz wurde weich und eine Wärme begann sich in seiner Brust zu erheben. Er blinzelte und sah mit tränenden Augen zu ihm auf. „Da sich Shi Mei so sehr um mich sorgt, sind meine Schmerzen gleich nicht mehr so groß.“
„Oh, schau doch nur, in welchem Zustand du bist – wie könnte es da nicht schmerzen? Du weißt doch, welches Temperament Shizun hat. So was darfst du in Zukunft nicht noch einmal machen, ja?“
Im Kerzenlicht sah ihn Shi Mei ein bisschen hilflos und ein bisschen bekümmert an. Seine sinnlichen Augen schimmerten wie warmes Quellwasser.
Mo Rans Herz macht einen Satz und sofort sagte er: „Das werde ich nie wieder. Ich schwöre.“
„Kann denn irgendjemand noch deinen Versprechen glauben?“ Doch trotz dieser tadelnden Worte lächelte Shi Mei. „Die Wontons werden kalt. Kannst du dich aufsetzen? Wenn das nicht geht, bleib einfach auf dem Bauch liegen und ich werde dich füttern.“
Mo Ran hatte sich schon halb erhoben, doch als er das nun hörte, brach er sofort wieder in sich zusammen.
Shi Mei sah ihn schweigend an.
Ganz egal ob es nun dieses Leben war oder das letzte – Mo Rans absolutes Leibgericht waren Shi Meis selbstgemachte Wontons. Der Teig war so dünn wie eine Rauchwolke und die Füllung war zart und feucht – mit jedem Bisschen schmolzen sie regelrecht in seinem Mund dahin. Und erst die Brühe mit der milchigen Konsistenz, über die man vereinzelte Frühlingszwiebelringe gestreut hatte und in der zarte, gelbe Eifädchen trieben … Zum Schluss hatte Shi Mei noch einen Löffel voll scharfer Chiliflocken, die in Knoblauch frittiert worden waren, darüber gestreut und wer auch immer sie aß, würde sich danach so warm fühlen, dass es unmöglich schien, jemals wieder Kälte zu empfinden.
Shi Mei bot ihm vorsichtig Löffel für Löffel an. Während er ihn fütterte, sagte er: „Ich habe heute kein Chiliöl rein getan. Du bist schwer verletzt. Für die Heilung ist dieses Gewürz nicht gut. Trink einfach die Brühe.“
Mo Ran starrte ihn an und er konnte seinen Blick nicht mehr abwenden. Er lächelte: „Egal ob nun scharf oder nicht, solange du es gemacht hast, ist alles köstlich.“
„Schmeichler.“ Shi Mei lächelte ebenfalls und fischte dann ein verlorenes Ei aus der Suppe. „Hier hab ich eine Belohnung für dich. Ich weiß doch, wie sehr du sie magst.“
Mo Ran lachte, eine kurze Haarsträhne ringelte sich wie eine Blume, die sich gerade entfaltete, auf seiner Stirn: „Shi Mei.“
„Was ist?“
„Nichts, ich wollte einfach nur deinen Namen sagen.“
Der andere schwieg.
Die Haarlocke schwang leicht vor und zurück. „Shi Mei.“
Shi Mei hielt ein Lächeln zurück: „Wolltest du ihn wieder einfach nur sagen?“
„Hmm. Es macht mich glücklich, deinen Namen auszusprechen.“
Shi Mei saß für einen Moment lang schweigend da und berührte dann zärtlich seine Stirn. „Du dummer Junge, hast du etwa Fieber?“
Mo Ran stieß ein Lachen aus. Er rollte sich herum und sah ihn von der Seite an, seine Augen leuchteten so hell, als wären sie voller kleiner, feiner Sterne.
„Es wäre ein Traum, wenn ich Shi Meis Wontons jeden Tag essen könnte.“
Er meinte es wirklich so.
Nachdem Shi Mei gestorben war, hatten sich Mo Ran immer gewünscht, noch einmal die Wontons, die er gemacht hatte, essen zu können. Aber es war nun mal wie es war, und dieser köstliche Geschmack war ihm für immer verloren gegangen.
Zu jener Zeit hatte Chu Wanning noch nicht völlig jede Bindung zu ihm gebrochen. Ob es nun aus eigenen Schuldgefühlen geschah, oder aber doch wegen etwas anderen – das wusste Mo Ran nicht – aber als Chu Wanning gesehen hatte, dass Mo Ran so betäubt vor Shi Meis Sarg kniete, war Chu Wanning leise in die Küche gegangen, hatte Teig geknetet und die Füllung gehackt und dann vorsichtig einige Wontons gefaltet. Aber Mo Ran hatte ihn dabei erwischt, noch ehe er seine Arbeit beenden konnte. Mo Ran, der gerade die Liebe seines Lebens verloren hatte, hatte das nicht ertragen können. Chu Wannings Taten waren ihm damals wie der reinste Hohn erschienen; wie ein verpfuschter Versuch, diese Liebe zu imitieren. Wie ein gezielter Schlag, der ihn hatte verletzen sollen.
Shi Mei war tot. Chu Wanning hätte ihn retten können, doch er hatte sich geweigert, zu helfen. Und später dann wollte er Shi Mei ersetzen und an seiner statt für Mo Ran Wontons zubereiten? Hatte er etwa geglaubt, das würde ihn glücklich machen?
Mo Ran war in die Küche gestürmt und hatte alles, was auf dem Tisch stand, herunter geworfen. Die runden Wontons waren gefallen und über den ganzen Boden hinweg gekullert.
Er hatte Chu Wanning angeschrien: „Was zur Hölle glaubst du wohl, wer du bist? Du glaubst, du seist würdig, ihn zu ersetzen? Würdig das Essen zu kochen, das er immer gemacht hat? Shi Mei ist tot, bist du nun zufrieden? Oder musst du erst all deine Schüler so lange quälen, bis jeder von ihnen dem Wahnsinn verfallen oder gestorben ist, bevor du endlich genug hast? Chu Wanning! Niemand in dieser Welt kann jemals wieder diese Wontons machen! Du kannst es vielleicht versuchen, aber du wirst niemals er sein!“
Und nun aß er diese Schüssel mit solch großer Freude. Er aß sie langsam, genoss jede einzelne gefüllte Nudel. Auch wenn er immer noch lächelte, so waren seine Augen doch etwas feucht. Glücklicherweise war das Kerzenlicht schwach und Shi Mei konnte diese Details in seiner Mine nicht deutlich sehen.
Mo Ran sagte: „Shi Mei.“
„Ja?“
„Ich danke dir.“
Shi Mei hielt für einen Moment lang inne und lächelte dann sanft. „Es ist doch nur eine Schüssel Wontons, oder? Du musst deswegen doch nicht so förmlich ein. Wenn du sie so sehr magst, werde ich sie dir in Zukunft immer machen.“
Mo Ran wollte ihm sagen, dass sich dieser Dank nicht nur auf die Wontons bezog.
Ich danke dir, dass du, ob nun im letzten oder aber in diesem Leben, der Einzige warst, der sich je um mich gesorgt hat, ungeachtet meiner Herkunft oder der vierzehn Jahre, die ich damit zugebracht hatte, hungernd umher zu irren. Ich danke dir, denn wenn ich nicht, gleich nachdem ich wiedergeboren worden war, an dich gedacht hätte, so fürchte ich, dass ich Rong Jiu getötet hätte. Ich hätte einen riesigen Fehler gemacht und wäre wieder denselben dunklen Pfad hinab geschritten wie davor. Zum Glück bin ich in diesem Leben noch vor deinem Tod wiedergeboren worden. Diesmal werde ich dich ganz sicher beschützen. Wenn du krank wirst oder dieser kaltblütige Dämon Chu Wanning sich weigert, dir zu helfen, so werde ich es tun.
Aber wie hätte er all diese Worte laut aussprechen können?
Am Ende trank Mo Ran nur die Brühe aus und ließ nicht eine einzige Frühlingszwiebel übrig. Unbewusst leckte er sich über seine Lippen, seine Grübchen waren so tief und er wirkte so niedlich wie ein sehr flauschiger, kleiner Hund.
„Gibt es morgen wieder mehr davon?“
Shi Mei konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln. „Willst du denn nicht mal was anderes essen? Hast du sie denn nicht irgendwann satt?“
„Von deinen Wontons könnte ich nie genug kriegen, solange es dir nicht irgendwann zu viel wird, sie für mich zu machen.“
Shi Mei schüttelte erneut den Kopf und lächelte. „Ich weiß nicht, ob noch genug Mehl übrig ist. Wenn es nicht mehr für die Wontons reicht, meinst du verlorene Eier in süßer Suppe wären auch okay? Das ist auch eines deiner Leibgerichte.“
„Okay-dokey! So lange du es kochst, ist alles super.“
Mo Rans Herz schwoll an. Er war so glücklich, dass er sich in den Laken hätte kugeln können.
Sieh doch nur, wie fürsorglich Shi Mei ist; Chu Wanning, du kannst mich mal! Ich kann hier im Bett liegen bleiben, während mich eine solche Schönheit umsorgt, hehe!
Allein der Gedanke an seinen Shizun entzündete erneut die Flamme der Wut inmitten all dieser sanften Gefühle. Mo Ran packte die Stirnseite des Bettes erneut voller Groll und fluchte innerlich.
Yuheng des Nachthimmels? Der Unsterbliche Beidou? Was für ein verfickter Blödsinn! Wart’s nur ab, Chu Wanning! Warte nur und sieh zu, was ich aus diesem Leben machen werde!!
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sechs: Die Zahl 6 gilt als Glückszahl, da sie dem chinesischen Wort für „glatt“ ähnelt. Sie steht für reibungslosen Fortschritt und Erfolg.
Yanlou: In der chinesischen Mythologie ist er der König über die Unterwelt und der oberste Richter der Hölle. Er muss über die verstorbenen Seelen richten und ihnen ein Schicksal für das nächste Leben zuteilen, das sich aus dem Karma des vergangenen ergibt. Wer tugendhaft gelebt hat, wird im nächsten Leben dafür belohnt werden.
Mengpo und die Naihe-Brücke: Mengpo ist der Name einer Unterweltsgöttin, die auf der Naihe-Brücke steht und den Verstorbenen Suppe gibt, durch die sie ihr altes Leben vergessen können – eine wichtige Voraussetzung für die Wiedergeburt.
Klingenberg und Flammenmeer: Dies sind zwei Foltermethoden der Unterwelt, mit denen Sünder bestraft werden. Beim Klingenberg müssen Sünder ihr Blut vergießen, indem sie den Berg, aus dem scharfe Klingen herausragen, hinaufklettern. Das Flammenmeer ähnelt dem westliche Fegefeuer.
Ältester: Als Älteste werden die Erwachsenen der Sekte bezeichnet, die die Schüler unterrichten, also einen Lehrerstatus inne haben.
-shidi: Bezeichnung eines jüngeren Mitglieds der eigenen Sekte. Wird nur für Männer benutzt.
Schwankung im Qi-Fluss: Qi ist vergleichbar mit der spirituellen Energie, die durch den Körper eines Kultivierers strömt. Eine Schwankung in diesem Fluss bedeutet, dass die grundlegende Kultivierungskraft instabil wird. Meist geschieht das dann, wenn der Kultivierer sich in einer sehr instabilen, emotionalen Lage befindet oder starke negative Gefühle erträgt; er Methoden der Kultivierung fehlerhaft anwendet oder die verbotenen Künste nutzt. Es kann auch unter Einfluss von Dämonen oder bösen Geistern dazu kommen.
duale Kultivierung: Man kann sie auch Doppel- oder Paarkultivierung nennen. Kerngedanke ist, dass man spirituelle Energie von einem Partner in den eigenen Körper aufnimmt und dadurch stärker wird. Meistens benötigt das sehr viel Hautkontakt und hat eine erotische Note. Duale Kultivierung gilt daher auch als ein Synonym für Sex.
Anmerkung der Übersetzerin: Im Ursprungstext wird hier tatsächlich der Vergleich mit einem Kätzchen gezogen, aber ich habe mir die künstlerische Freiheit heraus genommen und einen Welpen draus gemacht – passt besser zu Mo Rans Charakter.
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