Kapitel 06 – Der Shizun dieses Ehrwürdigen

 

Kapitelüberschrift: Der Shizun dieses Ehrwürdigen

Xue Meng will Mo Ran nicht ungestraft davon kommen lassen und bringt ihm zu der Person, die am ehesten dazu befähigt ist, über diesen jungen Mann zu richten: Ihrem Shizun Chu Wanning. Mo Ran ist davon alles andere als begeistert - immerhin ist Shizun für sein unbarmherziges Temperament bekannt!


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physische Folter, Verhör

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Xue Meng lebte schon seit seiner Kindheit auf dem Sisheng Peak. Er war bestens mit dem Aufbau des Berges vertraut und kannte jede Abkürzungen auf dessen Gelände - also war es für ihn kein Problem, Mo Ran einzuholen.

Er geleitete ihn den ganzen Weg bis zur Rückseite des Berges. Der hintere Sisheng Peak war der Ort, der der Geisterwelt auf dieser Erde am nächsten lag, und die zwei Welten wurden nur durch eine magische Barriere von einander getrennt. Hinter ihr erwartete einen das Reich der Toten.

Als er nun die unglückselige Situation auf der Rückseite des Berges sah, verstand Mo Ran sofort, warum dieser eine ganz spezielle Kerl es Madam Wang überlassen hatte, sich um etwaige Gäste zu kümmern - obwohl er eigentlich zu Hause war und selbst viel besser damit hätte umgehen können.

Es war nicht so, als hätte er ihr nicht helfen wollen, aber er konnte hier einfach nicht weg…

Denn die Barriere zur Geisterwelt war gerissen.

In diesem Moment war die ganze Luft auf der Rückseite des Berges angefüllt mit dem gigantischen Groll tausender spiritueller Seelen. Die Geister, die sich noch zu keinem festen Körper materialisiert hatten, heulten und schwebten unheilvoll in der Luft umher. Ein gigantischer Riss klaffte am Himmel; er war so groß, dass man ihm noch am weit entfernten Eingangstor der Sekte sehen konnte. Hinter dem Riss lauerte die Geisterwelt. Und davor erstreckte sich eine hohe Treppe von tausenden, blauen Stufen - sie reichte von dem Riss in der Barriere bis hinab zur Erde. So vom Fuße der Treppe aus betrachtet, sah man deutlich, wie die wilden Geister, die sich einen Körper aus Fleisch und Blut hatten formen können, die Stufen ungeordnet und chaotisch hinab krabbelten, als sie aus der Unterwelt in das Reich der Menschen drängten.

Jeder normale Sterbliche wäre angesichts dieser Szene voller Angst erstarrt. Als Mo Ran es das erste Mal gesehen hatte, war er auch bis ins Mark erschüttert gewesen, nun aber hatte er sich daran gewöhnt.

Die Barriere zwischen der Welt der Sterblichen und der der Geister war vor Urzeiten vom Kaiser Fuxi errichtet worden. Heute war sie nur noch sehr schwach. Von Zeit zu Zeit bildeten sich labile Bruchstellen, die von einem Kultivierer, der den Rang eines Großmeisters trug, wieder repariert werden mussten. Allerdings brachte einem eine solche Aufgabe nicht nur keine Fortschritte in der eigenen Kultivierung ein, nein, sie forderte auch noch einen hohen Tribut an spiritueller Kraft. Es war eine echte Plackerei, also waren auch nur wenige Unsterbliche in der oberen Kultivierungswelt bereit, einen solchen Knochenjob anzunehmen.

Wenn ein wilder Geist in die Menschenwelt gelangte, dann waren die Bewohner in der unteren Welt der Kultivierung stets die Ersten, die ihm zum Opfer fielen. Und als Beschützer der unteren Kultivierungswelt und des gemeinen Volkes fiel dem Sisheng Peak die Aufgabe zu, die Barriere zu immer wieder zu reparieren. Die Stellen der Barriere, die am instabilsten waren, fand man gleich in den hinteren Bergen der Sekte, sodass man, wenn sie einmal brechen sollte, so schnell wie möglich mit Versiegelungszaubern eingreifen konnte.

Und das passierte etwa vier oder fünf Mal im Jahr. Die Barriere war wie ein alter, durchlöcherter Topf, den man ständig neu flicken musste: Brüchig und nutzlos.

Und nun stand direkt am Eingang zur Geisterwelt auf der blauen Steintreppe ein Mann, der in schneeweiße Kleider gehüllt war und dessen weite Ärmel im Wind flatterten. Sein Schwert schimmerte in einem goldenen Licht und diese Aura umhüllte auch seine ganze Gestalt. Mit der eigenen Kraft vernichtete er die bösen Geister und Dämonen und reparierte gleichzeitig die kleinen Löcher, die sich in der Barriere gebildet hatten.

Der Mann hatte einen schlanken, starken Körper und war von sehr eleganter Erscheinung. Ihn umgab eine gütige, fast schon göttliche Ausstrahlung und sein Gesicht war außergewöhnlich schön. Aus einiger Distanz betrachtet hätte man ihn für einen gediegenen Gelehrten halten können, der gleich unter einem blühenden Baum wissbegierig eine alte Schriftrolle studierten würde. Doch von Nahem betrachtet hatte er sehr strenge Brauen, die Augen wie bei einem Phönix leicht nach oben geneigt und sein Nasenrücken war gerade und schmal. Trotz seiner edlen und herrschaftlichen Züge lag in seinem Blick stets eine kühle Schärfe, was den ganzen Mann doch irgendwie unnahbar und unfreundlich wirken ließ.

Mo Ran starrte ihn aus einiger Entfernung hinweg an. Auch wenn er gedacht hatte, er sei auf diese Begegnung vorbereitet, so ließ es ihn doch, als er nun sah, wie dieser Mann genau vor ihm auftauchte – wieder vollkommen lebendig und gesund – bis in den kleinsten Knochen seines Körpers hinein erschaudern.

Halb aus Angst und halb vor… Verzückung.

Sein Shizun.

Chu Wanning.

Dies war der Mann, um den Xue Meng geweint und den er flehentlich noch einmal zu sehen verlangt hatte, als er in ihrem letzten Leben in die Wushan Halle gekommen war.

Dies war der Mann, der Mo Rans ehrgeizige Vorhaben ruiniert und seine Pläne durchkreuzt hatte, und der deswegen am Ende von Mo Ran eingesperrt und bis zum Tode gefoltert worden war.

Rein logisch betrachtet, hätte Mo Ran damals froh sein müssen, als er endlich diesen einen Gegner besiegt und seine lang ersehnte Rache bekommen hatte. Mit ihm hatte sich Mo Ran des letzten Menschen entledigt, der ihn noch hatte in Schach halten können, und er war endlich so frei gewesen wie ein Fisch im weiten Ozean oder wie ein Vogel im leeren Himmel. Zumindest war es das, was Mo Ran anfangs erwartet hatte.

Doch trotzdem war das nicht der Fall gewesen.

Als sein Shizun starb, hatte Mo Ran seinen Hass zu Grabe getragen – und mit ihm auch noch etwas anderes, das er nicht wirklich benennen konnte.

Mo Ran war kein sehr gebildeter Mann und er erkannte in diesem Gefühl nicht den Nervenkitzel, einen würdigen Gegner zu haben, der es mit ihm aufnehmen konnte. Er wusste nur, dass er von diesem Tag an, keinen Erzfeind mehr in dieser Welt gehabt hatte.

Als sein Shizun noch lebte, hatte er Angst gehabt, er war paranoid gewesen und unruhig. Allein beim Anblick der Weidenranke in der Hand seines Shizuns, hatten sich alle Haare in Mo Rans Nacken aufgestellt. Es war wie bei einem geprügelten Hund, dem bereits bei dem einfachen Geräusch eines hölzernen Knüppels, den man gegen die Wand schlug, die Zähen schmerzten und die Beine nachgaben. Sogar seine Wadenmuskeln hatten sich vor Angst verkrampft.

Später, als Shizun starb, hatte sich Mo Ran der Person, die er am meisten gefürchtet hatte, entledigt. Er war endlich fähig gewesen, diese Sünde zu begehen und den Mord an seinem Meister zu verüben – und es hatte ihn das Gefühl der Reife vermittelt, so als wäre er nun endlich erwachsen geworden.

Danach hatte es niemand im Reich der Sterblichen mehr gegeben, der es gewagt hätte, ihn in die Knie zu zwingen; niemand hatte mehr gewagt, ihn zu ohrfeigen.

Um das zu feiern, hatte er einige Flaschen des Birnenblüten-Weißweins geöffnet, sich auf das Dach seines Palastes gesetzt und die ganze Nacht hindurch getrunken.

In dieser Nacht hatten - wahrscheinlich auch unter Einfluss des Alkohols - die Narben, die sein Shizun ihm einst im Jugendalter auf seinem Rücken zugefügt hatte, wieder voller heißem Schmerz gebrannt.

Nun, als sein Shizun in diesem Moment wieder vor ihm auftauchte, begann in Mo Ran ein Gefühl heran zu wachsen, dass sowohl mit Hass und Wut aber auch einem leichten Anflug an Ekstase vermischt war. Wie könnte es ihm auch nicht gefallen, dass er einen solchen einst verlorenen gegangenen Gegner nun wieder gewonnen hatte?

Chu Wanning ignorierte seine beiden Schützlinge, die das Gebiet des hinteren Berges so unerlaubt betreten hatten, und er konzentrierte sich ganz allein darauf, die verstreuten Untoten zu bekämpfen.

Seine Züge waren sehr elegant und unter seinen langen und ebenmäßigen Augenbrauen lag dieses unvergleichliche Paar Phönixaugen. Seine ganze Erscheinung wirkte erhaben, anmutig und fast schon überirdisch. Selbst inmitten des dämonischen Gestanks und dem kalten Regen aus Blut hatte sich seine Mine dennoch nicht ein bisschen geändert. Sein Gesicht blieb ruhig, ganz so als würde er einfach nur da sitzen und den Räucherstäbchen beim Abbrennen zusehen, oder aber als würde er auf dem Guqin spielen.

Und doch trug dieser sanfte und schöne Mann in diesem Moment ein eiskaltes Langschwert für die Geisteraustreibung, von dem das Blut in roten Tropfen perlte. Mit einem Wink seiner weiten Ärmel durchschnitt die Energie des Schwertes in einer lauten Explosion die blaue Treppe. Zertrümmerte Steine und Ziegel stürzten zum Fuß des Berges hinab, und eine unermessliche Kluft spaltete die Treppe mit ihren Tausenden Stufen!

Welch brutale Kraft!

Wie viele Jahre war es her, seit er die wahre Kraft seines Shizuns gesehen hatte?

Diese vertraute und mächtige Dominanz ließ Mo Rans Beine schwach werden. Zitternd fiel er mit einem dumpfen Schlag auf die Knie.

Chu Wanning brauchte nicht lange, um all die verbliebenen Geister zu getötet und die Löcher in der Barriere zur Geisterwelt wieder nahtlos zu verschließen. Nachdem er damit fertig war, glitt er aus der Luft zu ihnen hinab und schritt auf seine beiden Schüler zu.

Er betrachtete zuerst Mo Ran, der am Boden kniete, und dann hob er den Blick, um Xue Meng anzusehen. In seinen Phönixaugen lag eine beklemmende Kälte. „Macht er schon wieder Ärger?“

Mo Ran tat einen scharfen Atemzug. Sein Shizun hatte die Fähigkeit, jede Situation sehr schnell einzuschätzen, und dann auch meist die richtigen Schlüsse aus ihr zu ziehen.

Xue Meng antwortete: „Shizun, Mo Ran ist den Berg hinab gestiegen und hat die zwei Verbrechen des Diebstahls und der Hurerei begangen. Bitte, bestrafe ihn entsprechend.“

Chu Wanning blieb für eine Weile lang still, seine Mine war völlig ausdruckslos. Dann sagte er kalt: „Ich verstehe.“

Mo Ran und Xue Meng fehlten die Worte. Beide waren sie ein bisschen verwirrt. Und? War es das etwa schon?

Aber gerade, als Mo Ran schon dachte, dass er noch mal glimpflich davon gekommen war, sah er zu Chu Wanning auf und erhaschte nur noch einen flüchtigen Blick auf ein scharfes, goldenes Licht, das plötzlich durch die Luft schnitt. Es gab ein Geräusch wie von einem Blitzschlag und Mo Rans ganze Wange wurde aufschlitzte!!

Blutstropfen regneten herab und verteilten sich auf dem Boden!

Das goldene Licht war so schnell gewesen, dass Mo Ran noch nicht einmal Zeit gehabt hatte, seine Augen zu schließen, von Abwehr- oder Ausweichbewegungen ganz zu schweigen. Die Haut seiner Wange war aufgerissen und die Wunde brannte grässlich.

Chu Wanning stand nur kalt in der eisigen Brise der Nachtluft da, die Hände hatte er hinter seinem Rücken verschränkt. Die Luft um sie her war noch immer angefüllt mit der fauligen Aura böser Geister, und nun mischte sich auch noch der Geruch von Menschenblut hinein. Es verlieh der verbotenen Zone auf der Bergrückseite eine sogar noch bösartigere und angsteinflößendere Note.

In Chu Wannings Hand lag nun eine Weidenranke, mit der er Mo Ran geschlagen hatte. Die Ranke war schmal und lang, grüne Blätter sprossen aus ihr hervor, und sie reichte Chu Wanning bis zur Stiefelspitze.

Für sich gesehen war sie ein sehr anmutiges Objekt. Bei ihrem Anblick würden man wohl als erstes an Gedichtsverse denken wie „Biegsam ist der Zweig der Weide, den ich meiner Liebsten zeige“.

Schade nur, dass Chu Wanning weder biegsam war noch irgendeine Liebste hatte.

Die Weidenranke in seiner Hand war eigentlich eine heilige Waffe, die den Namen „Tianwen“ trug. In diesem Moment schimmerte Tianwen in einem rot-goldenen Licht, was sich durch die umgebende Dunkelheit bohrte, und sich in den bodenlosen Tiefen von Chu Wannings Augen spiegelte - was ihnen einen Schimmer Leben verlieh.

Chu Wanning schürzte die Lippen und sprach mit eisiger Stimme: „Sehr dreist von dir, Mo Weiyu! Dachtest du wirklich, ich würde dich nicht bestrafen?“

Wenn dies tatsächlich der fünfzehnjährige Mo Ran gewesen wäre, so hätte er diese Drohung wohl nicht sehr ernst genommen und nur gedacht, dass sein Shizun versuchte, ihm Angst einzujagen.

Aber da er nun wiedergeboren worden war, wusste Mo Ran nur zu gut, welchen Preis er bei Shizuns „Strafen“ im letzten Leben mit dem eigenen Blut hatte bezahlen müssen. Er fühlte sofort, wie die Wurzeln seiner Zähne zu schmerzen begannen und ihm die Röte ins Gesicht stieg. Sein Mund bewegte sich schon, bereit alles zu leugnen und seinen Namen wieder rein zu waschen.

Shizun…“ Seine Wange blutete noch immer. Mo Ran hob den Blick und er merkte, wie ein Schleier aus Tränen seine Augen trübten. Er wusste, dass seine momentane Erscheinung unglaublich erbärmlich wirken musste. „Dieser Schüler hat nichts gestohlen… er hat sich auch nicht mit einer Hure eingelassen… Warum hört Shizun auf die Worte von Xue Meng und schlägt mich gleich, ohne sich erst mal meine Version der Geschichte anzuhören?“

Chu Wanning sah ihn stumm an.

Mo Ran kannte zwei unschlagbare Tricks, um Strafen von seinem Onkel zu entgehen. Der erste war, sich süß und nett zu geben. Der zweite: Erbärmlich zu wirken. Und nun probierte er sie an Chu Wanning aus: Er sah so mitleiderregend aus, dass ihm beinah schon selbst die Tränen kamen. „Ist dieser Schüler in deinen Augen wirklich so wertlos? Warum hat mir Shizun nicht einmal die Chance gelassen, mich zu verteidigen?“

Xue Meng neben ihm war so wütend, dass er mit dem Fuß aufstampfte: „Mo Ran! Du, du kleines Stück Scheiße! Du – Du bist wirklich schamlos! Shizun, hör nicht auf ihn, lass dich nicht von diesem Bastard täuschen! Er hat wirklich gestohlen! Das ganze Diebesgut ist ja immer noch hier!“

Chu Wanning senkte seinen Blick erneut, seine Mine war kalt und abweisend: „Mo Ran, hast du auch wirklich nichts gestohlen?“

Gar nichts.“

Nach einer kurzen Pause: „… Du weißt, welche Konsequenzen dich erwarten, wenn du mich jetzt anlügst?

Mo Ran Arme überzog eine Gänsehaut. Wie hätte er das nicht wissen können? Trotzdem beharrte er stur wie ein Esel: „Shizun, bitte, glaube mir!“

Chu Wanning hob die Hand und die leuchtende, goldene Ranke wallte erneut auf, doch diesmal ließ er sie nicht auf Mo Rans Gesicht nieder sausen. Stattdessen schlang sie sich fest um Mo Rans Körper und fesselte ihn.

Dieses Gefühl war ihm noch viel zu vertraut. Neben dem standardmäßigen Auspeitschen von Leuten hatte die Weidenranke Tianwen noch eine weitere Fähigkeit…

Chu Wanning starrte Mo Ran an, der von Tianwen fest im Griff gehalten wurde, und er fragte ihn wieder: „Du hast nichts gestohlen?“

Plötzlich war da ein vertrauter, stechender Schmerz in Mo Rans Herzen, als hätte sich eine kleine Schlange mit scharfen Zähnen irgendwie einen Weg in seine Brust erschlichen und würde nun mit seinen Organen spielen. Begleitet wurde dieser heftige Schmerz von dem unwiderstehlichen Drang, jetzt mit der Wahrheit raus zu rücken. Mo Ran konnte nicht anders, als seinen Mund zu öffnen, und mit heiserer Stimme zu sagen: „Ich… habe es… nie… ahhh…!!“

Tianwens goldenes Licht schien auf seine Lügen zu reagieren und leuchtete nur noch stärker. Der Schmerz ließ Mo Ran in kalten Schweiß ausbrechen, aber er versuchte noch immer verzweifelt sich dieser Folter zu widersetzen.

Das war Tianwens zweite Technik: Das Verhör.

War man einmal von Tianwen gefesselt worden, würde niemand mehr lügen können. Egal ob nun Mensch oder Geist, egal ob lebendig oder tot – Tianwen wusste, wie es sie alle zum Sprechen zwingen und dazu bringen konnte, die Antworten offen zu legen, die Chu Wanning wissen wollte.

Im letzten Leben hatte es nur eine einzige Person gegeben, die fähig gewesen war, ein Geheimnis unter Tianwens Einfluss für sich zu behalten – und das hatte daran gelegen, dass sie eine stärkere Kultivierung als Tianwens Meister gehabt hatte.

Diese Person war der Mann, der der Kaiser der Menschenwelt geworden war: Mo Weiyu.

Nach seiner Wiedergeburt hatte Mo Ran gehofft, dass er mit ein bisschen Glück immer noch fähig wäre, Tianwens Zwangsverhör zu widerstehen. Aber nachdem er sich eine gefühlte Ewigkeit lang auf die Lippen gebissen hatte, große Schweißtropfen über seine dunklen Augenbrauen gelaufen waren, und er am ganzen Körper zitterte, beugte er sich schließlich voller Schmerz über Chu Wannings Schuhe und schnappte nach Luft.

Ich… Ich… habe gestohlen…“

Der Schmerz ließ sofort nach.

Mo Ran war noch nicht einmal wieder zu Atem gekommen, als Chu Wanning auch schon die nächste Frage stellte, seine Stimme war nun sogar noch kälter als zuvor:Du hast dich auf eine Hure eingelassen?“

Kluge Leute begingen nicht zweimal denselben Fehler. Da er sich gerade eben schon nicht gegen Tianwen hatte wehren können, war es natürlich noch unwahrscheinlicher, dass ihm das jetzt gelingen sollte. Nnn versuchte Mo Ran noch nicht einmal, sich dagegen zu wehren, und als der Schmerz einsetzten, schrie er sofort: „Ja, ja das habe ich!!! Shizun, bitte! Nicht mehr!“

Xue Mengs Gesicht lief blau an. Er rief voller Ekel: „Du… wie kannst du nur… Dieser Rong Jiu ist ein Mann und du hast wirklich…“

Niemand schenkte ihm Beachtung. Als das goldene Licht von Tianwen langsam ermattete, schnappte Mo Ran nach Luft, sein ganzer Körper war schweißnass, so als hätte man ihn gerade erst aus dem Wasser gefischt. Sein Gesicht war weiß wie Papier, seine Lippen zitterten noch immer und er brach auf dem Boden zusammen, nicht mehr in der Lage sich zu rühren.

Durch seine nassen Wimpern sah er verschwommen zu Chu Wannings eleganter Gestalt hinauf, auf seine eine grüne Jadekrone und die weiten Ärmel, die bis zum Boden gingen.

Plötzlich wallte ein starker Hass in Mo Rans Herzen auf. Chu Wanning! Dieser Ehrwürdige hatte jedes Recht dazu, dich in seinem letzten Leben so zu misshandeln – soviel ist sicher! Selbst nach der Wiedergeburt ist schon dein bloßer Anblick immer noch so toxisch! Zum Teufel mit dir und allen achtzehn Generationen deiner Vorfahren!

Chu Wanning konnte nicht wissen, dass dieser durchtriebene Schüler tatsächlich so große Schandtaten begangen hatte, dass er damit wirklich alle achtzehn Generationen seiner Vorfahren entehrt und geschändet hatte. Doch so stand er nur noch eine Weile lang mit düsterer Mine da und sagte dann: „Xue Meng.“

Obwohl Xue Meng wusste, dass männliche Prostituierten bei reichen Geschäftsleuten und in wohlhabenden Häusern sehr beliebt waren und dass Viele mit diesen Männern spielten, nur um mal etwas Neues auszuprobieren - und nicht etwa, weil sie sich zu diesem Geschlecht hingezogen fühlten – konnte er es immer noch nicht ganz verdauen. Nach einem kurzen Moment sagte er dann: „Shizun, dein Schüler hört dich.“

Mo Ran hat gegen die drei Gebote betreffend des Diebstahls, der Unzucht und der Falschaussage verstoßen. Geleite ihn zur Yanlou-Halle, wo er die Nacht über knien und Buße tun soll. Morgen wirst du ihn in aller Frühe zur Plattform der Sünde und Tugend bringen, wo er eine öffentliche Bestrafung erhält.“

Xue Meng erschrak: „Was…? Eine… öffentliche Bestrafung?“

Öffentliche Strafen bedeuteten, dass die Schüler, die schwerwiegende Verstöße begangen hatten, vor den Augen aller Angehörigen der Sekte – seien es nun die Schüler oder gar die Köchinnen der Mensa – vorgeführt und in Anwesenheit aller bestraft wurden.

Eine absolute Demütigung. Haltlos beschämend.

Es stimmte, dass Mo Ran ein Schüler des Sisheng Peaks war. Doch auch wenn die Disziplinarmaßnahmen der Sekte sehr streng waren, so hatte Mo Ran doch immer einen gewissen Sonderstatus durch seinen Onkel genossen, der es nie über sich bringen konnte, seinen Neffen wirklich zu bestrafen. Er hatte zu viel Mitleid mit diesem Jungen, der bereits in einem viel zu jungen Alter zur Waise geworden war und vierzehn Jahre auf der Straße hatte leben müssen. Ganz egal, was Mo Ran tat, sein Onkel würde ihm nur eine kleine Standpauke unter vier Augen halten, und Schläge würde es schon mal gar nicht geben.

Aber Shizun wollte noch nicht einmal das Gesicht des Sektenleiters in dessen Abwesenheit wahren. Er wollte seinen kostbaren Neffen zur Plattform der Sünde und Tugend schleifen, ihn dort öffentlich bestrafen und den jungen Meister Mo vor der ganzen Sekte bloßstellen. Mit so etwas hatte selbst Xue Meng nicht gerechnet.

Doch Mo Ran überraschte das nicht.

Er lag am Boden und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen.

Oh, wie großartig und selbstlos sein Shizun doch war – so voller Moral!

Chu Wanning hatte ein Herz aus Eis. In seinem letzten Leben, als Shi Mei genau vor seinen Augen gestorben war, hatte Mo Ran geweint, seine Kleider ergriffen, am Boden gekniet und ihn um seine Hilfe angefleht. Aber Chu Wanning hatte sich taub gestellt. Und so hatte sein eigener Schüler vor Chu Wanning seinen letzten Atemzug getan. Und selbst als Mo Ran sich neben ihm das Herz aus dem Leibe geschrien hatte, hatte Chu Wanning einfach nur da gestanden und all sein Schluchzen ignoriert.

Alles, was er jetzt tat, war, ihn zur Plattform der Sünde und Tugend zu zerren, sodass er vor aller Augen gezüchtigt werden konnte. Nichts Außergewöhnliches also.

Alles, was Mo Ran momentan übrig blieb, war, sich über die Schwäche der eigenen Kultivierung zu ärgern. In seinem jetzigen Zustand konnte er Chu Wanning nicht die Haut vom Leibe ziehen, ihm seine Nerven ausreißen, das Blut aus ihm heraus saugen. Er konnte ihn nicht beschimpfen, er konnte ihn nicht foltern und quälen, er konnte seine Würde nicht zerschmettern, ihm ein Leben schlimmer als der Tod bescheren…

Mo Ran hatte den animalischen Hass, der in seine Augen aufgeflackert war, nicht unterdrücken können, und Chu Wanning hatte ihn gesehen. Er warf seinem Schüler einen flüchtigen Blick zu, die eigene elegante und würdevolle Mine blieb völlig unbewegt: „Was denkst du gerade?“

Scheiße! Er hatte Tianwen immer noch nicht von ihm zurück gezogen!

Mo Ran spürte erneut, wie sich die Ranke enger um ihn schlang, und seine Organe fühlten sich an, als würden sie jeden Moment zu Brei zerquetscht werden. Er schrie vor Schmerz auf, atmete heftig und brüllte dann die Gedanken in seinem Kopf hinaus: „Chu Wanning, du denkst wirklich, du bist so vornehm! Wart’ nur ab, ich werde dich noch zu Tode ficken!“

Niemand sprach.

Chu Wanning hatte es die Sprache verschlagen.

Selbst Xue Meng war wie vom Donner gerührt.

Plötzlich zog sich Tianwen in Chu Wannings Hand zurück, es verwandelte sich in einen kleinen Fleck aus goldenem Licht, und verschwand dann ganz. Tianwen war eins mit Chu Wannings Fleisch und Blut und konnte, wann immer es nach seinem Willen herauf beschworen wurde, aus dem Nichts erscheinen und dann auch wieder darin verschwinden.

Xue Mengs Gesicht war sehr blass, als er nun zu stottern begann: „Sh-Shizun…“

Chu Wanning sagte kein Wort. Er hielt die langen, schwarzen Wimpern gesenkt und studierte für eine Weile seine Handfläche. Als er seinen Kopf wieder hob, war sein Gesicht noch immer ruhig, doch seine Mine war kälter denn je. Er bedachte Mo Ran mit einem Blick, der ihm deutlich sagte Für diese Worte hättest du den Tod verdient, und sagte dann mit leiser Stimme: „Tianwen scheint kaputt zu sein. Ich werde gehen und es reparieren.“

Xue Meng war ein bisschen langsam: „Häh, wie kann den eine Heilige Waffe wie Tianwen kaputt gehen?“

Chu Wanning hörte das, sah über seine Schulter und warf auch ihm noch einen mörderischen Blick zu, bevor er ging. Xue Meng erschauderte.

Mo Ran lag halbtot und mit leerem Blick am Boden.

Er hatte sich vorhin wirklich eine Möglichkeit gewünscht, Chu Wanning zu Tode zu ficken. Er wusste, dass Großmeister Chu, der auch unter den Titeln „Yuheng des Nachthimmels“ und „Unsterblicher Beidou“ bekannt war, der eigenen Eleganz und Sittlichkeit stets die größte Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und er konnte es vor allem nicht ertragen, von jemand anders mit Füßen getreten oder beschmutzten zu werden.

Aber er wollte nicht, dass Chu Wanning wusste, dass er so dachte.

Mo Ran winselte wie ein Straßenhund und bedeckte sein Gesicht.

Der Blick in Chu Wannings Augen hatte ihm jedenfalls deutlich gesagt, dass es auf seinen Tod wohl nicht mehr allzu lange würde warten müssen.


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Kaiser FuxiDer Kaiser der himmlischen Landen. Er gilt als Urahn der Menschen und soll ihnen damals Musik, Medizin, die Schrift und das Jagen beigebracht haben.

PhönixaugenIn China wird die Form der Augen oft mit bestimmten Attributen und Namen bezeichnet. Ich umschreibe das dann meistens im Text, aber bei Chu Wannings Augen wird so oft die Form genannt, dass ich den Begriff „Phönixaugen“ verwenden werde. Diese Augenform ist sehr schmal, am äußeren Ende leicht nach oben angeschrägt und spitz zulaufend.

GuqinEin traditionelles, chinesisches Saiteninstrument. Es hat Ähnlichkeit mit einer Harfe, die Saiten sind aber über einem Holzkörper gespannt. Meistens liegt es flach auf einem Tisch vor dem Spieler.

Waffen von KultivierernKultivierer sind oft auch gute Kämpfer. Die Waffen, mit denen sie am besten kämpfen können, tragen oft Namen, weil der Glaube besteht, sie hätten auch eine Seele. Daher bemüht man sich als Waffenbesitzer um ein gutes Verhältnis zu seiner Waffe, um die bestmögliche Einheit mit ihr zu bilden. Es kann auch vorkommen, dass eine Waffe ihren Besitzer ablehnt und er sie nur wie ein Werkzeug nutzen kann, ohne auf die besonderen Eigenschaften oder spirituellen Kräfte in ihr zugreifen zu können. Heilige Waffen besitzen außergewöhnlich große Kraft, sind aber nicht leicht zu beschaffen oder zu meistern. Sie sind selten und können nur von den stärksten Kultivierern genutzt werden.

JadeEin Edelstein von meistens milchig-grüner Farbe. Er gilt in China sogar als noch edler als Gold, da er sehr wertvoll ist, aber nicht zu protzig wirkt. Je nach Gebiet der Förderung kann Jade auch weiß oder rosa sein, diese Farben sind aber selten.

KroneIst in China nicht im Sinne einer klassischen Königskrone gemeint. Bei Kaisern und Königen (z.B. Taxian-Jun) wird so ein Haarschmuck bezeichnet, der um den Haardutt gelegt wird und in einer Platte mündet, die über dem Kopf des Trägers in der Luft hängt. Am vorderen und hinteren Ende sind Perlenschnüre befestigt, die dem Träger ins Gesicht fallen. Wenn Kultivierer und andere hohe Persönlichkeiten eine „Krone“ tragen, ist damit meist eine runde Spange gemeint, die um das geraffte Haar eines Dutts oder Pferdeschwanzes liegt und kunstvoll verziert sein kann.

Fluch auf alle achtzehn Generationen der VorfahrenEine große Beleidigung in China. Man ehrt dort die Verstorbenen viel mehr als in Europa und ist stolz auf seine Vorfahren. Sie bis in die achtzehnte Generation hin zu verfluchen und zu verwünschen, ist sehr respektlos. Man kann den Satz auch als Drohung verstehen: Dass man dem momentan Lebenden so großes Leid und Demütigung bescheren wird, dass man damit selbst noch seine Ahnen bis in die achtzehnte Generation hinein entehrt. Und warum ausgerechnet achtzehn? Da kann ich nur mutmaßen. Zum einen ist die Achtzehn eine Glückszahl, was die Beleidigung noch vertieft. Außerdem wird man in China heutzutage (genau wie in Europa) mit achtzehn volljährig. Wenn man die Jahre nun in Generationen übersetzt, würde man quasi die Ahnenreihe so weit verfluchen, sodass sie keinen „Erwachsenenstatus“ mehr hätte. Aber das ist nur eine Vermutung.



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Kommentare

  1. Vorhang auf für unseren zweiten großen Hauptcharakter, der sich einen bombastischen ersten Auftritt gesichert hat! Bahn frei, ihr Sterblichen! Der Älteste Yuheng hat keine Zeit für Gerede - er muss den Tag retten und Dämonen bezwingen!

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