Kapitel 4 - Der Cousin dieses Ehrwürdigen

 

Kapitelüberschrift: Arc 01 - Der Cousin dieses Ehrwürdigen

Mo Ran und Shi Mei reiten zurück zu ihrer Kultivierungssekte. Man erwartet sie schon...

__________________________

Der Name Shi Mei hatte nichts mit der Bezeichnung Shimei, wie man auch die jüngeren Ordensschwestern nannte, zu tun.

Shi Mei war tatsächlich männlich und wenn es darum ging, wer der Ältere von ihnen war, dann hätte man ihn eigentlich Mo Rans Shige nennen müssen, denn Mo Ran war jünger.

Der Grund für diese etwas unglückliche Bezeichnung war der, dass der Herr und Sektenleiter des Sisheng Peaks in der Namensgebung nicht sehr erfahren war.

Shi Mei war ein Waisenkind und wurden vom Sektenleiter in der Wildnis gefunden. Der Junge war anfangs sehr schwach und kränklich gewesen und der Sektenleiter hatte gedachte, dass er diesem Kind wohl einen Namen geben müsste, der nicht so protzig klang, sodass er es bei seiner Ausbildung und mit seinen Mitmenschen leichter haben würde.

Der Junge war außergewöhnlich hübsch, mit roten Lippen und weißen Zähnen, ganz wie ein liebreizendes kleines Mädchen, also durchforstete der Sektenleiter seinen Kopf und dachte über einen passenden Namen nach. Er fand etwas, das sich gut für dieses Wesen eignen würde, und so nannte er in Xue Ya.

Xue Ya wuchs heran und wurde größer und größer; zugleich entwickelte sich sein Körper, und er wurde schöner und schöner. Er war von schlankem Körperbau und seine Brauen und seine Augen waren gleichermaßen wohlgeformt und bezaubernd, und sie verliehen ihm einen außerordentlich gütigen Charme. Der Gesamteindruck war der einer auffälligen und unvergleichlichen, natürlichen Schönheit.

Für Dorfbewohner und gewöhnliche, ungebildete Kultivierer mochte es okay sein, den Namen Xue Ya zu benutzen, aber hatte man je von einer Schönheit gehört, die einen Namen trug, den man in seiner Wortbedeutung auch mit „Goudan“ oder „Tiezhu“ verwechseln könnte?

Seine gleichaltrigen Sektenbrüder hatten Mitleid mit ihm und begannen ihn immer seltener Xue Ya zu nennen. Trotzdem, da ihm dieser Name vom Sektenleiter persönlich gegeben worden war, wagten sie nicht, den Vorschlag zu machen, dass er doch seinen Namen ändern könnte, und so nannten sie ihn stattdessen halb im Scherz „Shimei“ – kleine Schwester.

Da der Name „Shimei“ immer öfter fiel, sagte der Herr des Sisheng Peaks eines Tages, indem er die weiten Ärmel seines Gewandes nach hinten ausschlug, sehr verständnisvoll und in einem Anflug der Empathie: „Xue Ya, vielleicht solltest du einfach deinen Namen ändern. Nenn dich doch Shi Mei, aber mit dem Schriftzeichen „Mei“, das auch „unschuldig“ bedeutet, na wie wär’s?“

Er hatte wirklich die Stirn, ihn das zu fragen? Welcher normale Mensch könnte denn mit so einen dummen Namen zufrieden sein? Aber Shi Mei war ein sehr besonnener Junge. Er sah auf und blickte den Herrn der Sekte ins Gesicht, und er musste feststellen, dass ihn der andere voll freudiger Erwartung ansah - und wohl dachte, dass er ihm gerade einen großen Gefallen getan hatte. Shi Mei brachte es nicht über sich, ihm zu widersprechen, und dachte, dass, selbst wenn man ihm mit diesem Namen Unrecht tat, er den Herrn des Sisheng Peaks doch auch nicht so demütigen konnte, in dem er dieses Angebot nun ablehnte. Und so kniete er sich nieder und nahm den Namen dankend an. Von diesem Tag an hieß er also Shi Mei.

__________________________

Der Schwarzgekleidete hustete ein paar Mal, ehe er wieder zu Atem kam. Sein Blick fiel auf Mo Ran. „Huh? A-Ran? Was machst du denn hier?“

Hinter dem zarten Schleier lag ein Augenpaar, das so sanft war wie das Wasser einer Quelle und so hell leuchtete wie die Sterne bei Nacht. Dieser Blick bohrte sich sogleich in Mo Rans Herz hinein.

Mit nur einem einzigen Blick wurden die süßen, romantischen Gefühle von Taxian-Jun und die sanfte Zuneigung wieder befreit, die für Jahre hinweg in diesem Mann vergraben gelegen hatte, seit er der Kaiser der Kultivierungswelt geworden war.

Es war Shi Mei.

Daran gab es keinen Zweifel.

Mo Ran war ein heranwachsender Halunke und Tunichtgut. In seinem letzten Leben hatte er sich sowohl mit Männern wie auch mit Frauen vergnügt. Dass er am Ende nicht an einem Überfluss an Sex gestorben war, hatte selbst ihn überrascht.

Doch der einzigen Person gegenüber, die jemals wirklich sein Herz erobert hatte, hatte er sich immer sanft und vorsichtig verhalten und er hatte es nie gewagt, sie leichtfertig zu berühren.

In diesen früheren Jahren hatte sich zwischen ihm und Shi Mei eine stille Romanze entwickelt, doch in all ihren Interaktionen war es nie ganz klar gewesen, wie ihre Beziehung zueinander nun eigentlich war; und bis zu Shi Meis Tod hatte Mo Ran nie mehr getan, als nur seine Hand zu halten, und selbst das eine und einzige Mal, an dem sich ihre Lippen berührt hatten, war ein Unfall gewesen.

Mo Ran war zu schmutzig. Und Shi Mei war zu sanft und rein. Er war einer Person wie Shi Mei einfach nicht würdig.

Diese Person war von ihm in dem letzten Leben so in Ehren gehalten worden, und dann sogar noch mehr, nachdem sie gestorben war. Er war vollständig zum weißen Mondlicht geworden, das Taxian-Juns ins Herz geschienen hatte – wunderschön und anbetungswürdig, und doch unerreichbar fern. Und ganz egal, welche Gefühle er für ihn gehabt hatte, die Verstorbenen waren nur noch in der Erinnerung erreichbar und ihre Körper waren unwiederbringlich zu Staub geworden – ohne noch eine Spur von sich zurück zu lassen.

Dennoch, in diesem Moment, stand Shi Mei lebendig in Fleisch und Blut vor ihm, und Mo Ran schaffte es nur unter Aufbietung all seiner Willenskraft, seine Gefühle zu unterdrücken und seine Aufregung zu verbergen.

Mo Ran half ihm auf die Füße und klopfte ihm den Staub vom Umhang. Er war so erschüttert, dass es fast meinte, ihm würde das Fleisch von den Knochen geschabt werden.

Wenn ich nicht hier gewesen wäre, wie sehr hätten sie dich dann noch zusammen geschlagen? Warum hast du dich nicht gewehrt, als sie anfingen, dich zu verprügeln?“

Ich wollte zuerst vernünftig mit ihnen reden, bevor…“

Es bringt nichts, mit dieser Art von Leuten zu reden! Hast du Schmerzen? Wo tut es weh?“

Ähm, A-Ran, ich… ich will niemandem Ärger machen.“

Mo Ran drehte seinen Kopf und sagte wutentbrannt zu den gaunerhaften Kultivierern: „Ihr wagt es, die Hand gegen einem Kultivierer des Sisheng Peaks zu erheben? Sehr mutig von euch!“

A-Ran… bitte, vergiss es…“

Wolltet ihr nicht kämpfen? Nur zu! Warum kämpft ihr nicht mit mir?!“

Diese Kultivierer waren eben erst von Mo Ran zu Boden geschleudert worden und sie erkannten, dass die Kultvierungskraft dieses jungen Mannes weit über der ihren lag. Tief in ihrem Inneren waren sie eigentlich Feiglinge und solange sie es nicht mit jemanden zu tun hatten, der schwächer war als sie, scheuten sie jede Konfrontation. Sie hatten Angst, es direkt mit Mo Ran aufnehmen zu müssen, und wichen zurück.

Shi Mei seufzte und beschwichtigte ihn dann: „Bitte, kämpf’ jetzt nicht, A-Ran. Lass sie gehen.“

Mo Ran wandte sich ihm wieder zu. Er konnte nicht anders ein Zittern in seinem Herzen zu spüren, und sein Blick wurden sehr warm.

Shi Mei war immer so gutherzig gewesen, und als er in seinem letzten Leben gestorben war, hatte er es getan, ohne dabei Groll oder Verbitterung oder Hass zu empfinden. Er hatte sogar versucht, Mo Ran zu überzeugen, dass er ihren Shizun nicht hassen sollte, der Shi Meis Leben hätte retten können, aber stattdessen nur untätig zugesehen hatte.

Aber sie haben…“

Mir geht es doch gut, oder? Mach keinen Ärger, wenn es doch sowieso nichts bringt. Hör einfach auf deinen Shige.“

Oh. Na schön, ich hör auf dich. Ich werde tun, was du sagst.“ Mo Ran schüttelte seinen Kopf und funkelte die Kultivierer dann wütend an. „Habt ihr gehört? Mein Shige hat sich für euch eingesetzt! Warum verschwindet ihr nicht von hier? Wollt ihr etwa, dass ich euch Beine mache?“

Ja, ja, ja! Wir verschwinden! Wir gehen ja schon!“

Doch da rief ihnen Shi Mei hinterher: „Einen Moment noch.“

Da Shi Mei gerade erst so brutal von diesen Leuten verdroschen worden war, dachte sie wohl, dass er sie nicht so einfach davon ziehen lassen würde. Sie warfen sich zu Boden und verbeugten sich in Kowtows, wobei sie immer wieder sagten: „Xianjun, Xianjun, wir taten Euch Unrecht. Wie haben nicht erkannt, welch mächtige Person wir direkt vor uns hatten. Bitte, Xianjun, lasst uns gehen!“

Ich habe es euch vorhin schon gesagt, aber ihr habt nicht auf mich gehört“, seufzte Shi Mei. „Ihr habt die Kinder von anderen entführt, gefangen gehalten und sie gezwungen, große Qualen durchzustehen, was auch ihren Eltern unsagbares Leid bereitet hat. Wie könnt ihr das nur mit eurem Gewissen vereinbaren?“

Es tut uns leid! Es tut uns leid! Xianjun, wir haben gesündigt! Wir werden es nicht wieder tun! Wir werden es nicht wagen es noch mal zu tun!“

Von heute an werdet ihr ein aufrichtiges Leben führen müssen und nie wieder solch böse Taten verüben. Habt ihr das verstanden?“

Ja! Wir verstehen, was der junge Unsterbliche uns lehren will! Wir… Wir haben unsere Lektion gelernt, wir haben verstanden!“

Wenn das so ist, dann entschuldigt euch bitte bei dieser Dame hier und versorgt ihre Kinder. Bietet ihnen jede benötigte medizinische Behandlung.“

Als diese Sache geklärt war, half Mo Ran Shi Mei auf sein Pferd. Er lieh sich ein weiteres Pferd aus der Poststation, und die zwei ritten langsam zusammen zu ihrer Sekte zurück.

Ein Sichelmond begann am Himmel empor zu klettern und das Mondlicht fiel durch das Blätterdach des Waldes und besprenkelte den Pfad.

Als sie so zusammen ritten, begann sich Mo Ran immer friedvoller zu fühlen: Er hatte gedacht, dass er zuerst zum Sisheng Peak zurück kehren müsste, ehe er Shi Mei wiedersehen konnte. Er hätte nicht erwartet, dass Shi Mei selbst den Berg hinunter kommen würde, um jemanden in der Stadt zu helfen, und er dann dabei direkt in ihn hinein laufen würde. Mo Ran war mehr und mehr davon überzeugt, dass er und Shi Mei wirklich vom Schicksal für einander bestimmt waren.

Auch wenn Shi Mei in diesem neuen Leben noch nicht mit ihm zusammen war, so hatten sie in ihrem letzten Leben keinerlei heftige Auseinandersetzungen gehabt. Offenbar hieß das, dass die Dinge sich auch in diesem Leben gut zwischen ihnen entwickeln würden.

Das Einzige, worüber er sich noch sorgen musste, war, dass er Shi Mei ausreichend beschützen musste, um dafür zu sorgen, dass er nicht wieder in seinen Armen sterben würde, so wie damals…

Shi Mei wusste nicht, dass Mo Ran wiedergeboren worden war, und daher plauderte er mit ihm so ungezwungen wie auch immer. Die beiden redeten ununterbrochen, bis sie den Fuß des Sisheng Peaks erreichten.

Unerwarteterweise stand dort, obwohl es bereits mitten in der Nacht war, noch jemand vor dem Tor des Berges und starrte sie durchdringend an.

Mo Ran! Du weißt also noch, wie man den Rückweg antritt?“

Huh?“

Mo Ran hob den Blick. Oh, was für ein wütender, kleiner Liebling des Himmels das doch war.

Diese Person war niemand anderes als der junge Xue Meng.

Verglichen mit dem Xue Meng, den er gesehen hatte, bevor er starb, sah er mit seinen fünfzehn oder sechzehn Jahren noch deutlich hübscher aus. Er trug eine leichtes, schwarzes Rüstungsgewand mit blauem Saum. In seinem hohen Pferdeschwanz saß eine silberne Haarspange; um die starke, schmale Hüfte lag ein Gürtel mit einer Schnalle in Form eines Löwenkopfes; seine Arme und Beine waren durch Rüstungsteile geschützt und auf seinem Rücken schimmerte im eisigen Licht des Mondes ein schmales Schwert. Um seinem linken Arm lag ein Ärmelköcher, der silbern funkelte.

Mo Ran seufzte dezent und dachte bei sich: Nun, da hat er sich wirklich raus geputzt.

Xue Meng war, ganz egal ob nun als Teenager oder als Erwachsener, immer sehr geschniegelt.

Jetzt seht ihn euch nur mal an, diesen jungen Mann. Was hast du nur vor, so mitten in der Nacht, dass du nicht schläfst und stattdessen die ganze Rüstungsmontur des Sisheng Peak anlegst? Bereitest du dich auf ein Paarungsritual vor wie ein Fasan oder ein Pfau?

Doch, wenn Mo Ran auf ein Treffen mit diesen junge Mann auch gerne verzichtet hätte, so schien Xue Meng ihn offenbar noch viel weniger sehen zu wollen.

Mo Ran war ein uneheliches Kind. Als er noch klein gewesen war, hatte er nicht einmal seinen Vater gekannt. Er hatte die Tage damit verbracht, kleine Arbeiten in einem Freudenhauses in Xiangtan zu übernehmen. Bis zum Alter von vierzehn Jahren war es so gelaufen, bis man ihn dann gefunden und zum Sisheng Peak gebracht hatte.

Ganz anders stand es mit Xue Meng, der jungen Meister des Sisheng Peaks und ebenfalls auch Mo Rans Cousin. Xue Meng war ein junger Mann, ein wahres Wunderkind und unter solchen Spitznamen wie der Liebling des Himmels“ oder „Kleiner Phönix“ bekannt. Ein normaler Mensch benötigte drei Jahre, um eine gefestigte Basis der Kultivierung zu entwickeln, und es brauchte mindestens zehn weitere Jahre, um einen Geisterkern zubilden. Doch Xue Meng war sehr talentiert. Vom Beginn seines Trainings bis hin zur Kultivierung seines Geisterkerns hatte er nur fünf Jahre gebraucht. Seine Eltern waren ganz aufgeregt gewesen und er wurde von jedermann in höchsten Tönen gelobt.

Aber in Mo Rans Augen war er, ganz egal ob er nun mit einem Phönix oder einem Hühnchen, einem Pfau oder einer Ente verglichen wurde, doch immer nur ein Vogel. Der einzige Unterschied zwischen ihnen, war die Länge der Federn.

Das war es also, was Mo Ran in Xue Meng sah: Einen Vogel.

Und Xue Meng wiederum hielt Mo Ran nur für Folgendes: Einen Hund.

Vielleicht lag es in der Familie, aber Mo Rans Talent war fast genauso erstaunlich wie das seines Cousins. Man konnte sogar sagen, dass es sogar noch unglaublicher war als Xue Mengs.

Als Mo Ran zum ersten Mal die Sekte betreten hatte, hatte Xue Meng deutlich den starken Unterschied zwischen ihnen beiden gefühlt. Er selbst, Xue Meng, war edel und schick, unglaublich wohl erzogen, gelehrt, in der Kampfkunst erfahren und schön – also ganz anders als sein wilder, ungezähmter, älterer Cousin.

Der selbstverliebte Phönix hatte nur grollend zu seinen Dienern gesagt: „Hört mir gut zu: Mo Ran ist faul und ungebildet. Er ist ein Gauner durch und durch. Ihr alle solltet am besten gar nicht mit ihm reden und ihn nur wie einen Hund behandeln.“

Und sein Gefolge hatte ihm geschmeichelt: „Was immer der junge Herr auch sagen mag, ist wahr. Mo Ran ist schon vierzehn Jahre alt und hat doch erst jetzt angefangen, die Unsterblichkeit zu kultivieren. Bestimmt wird er mindestens zehn Jahre brauchen, um eine Kultivierungsbasis zu entwickeln, und weitere zwanzig Jahre, um einen Geisterkern zu bilden. Dann wird unser junger Herr schon längst in den Himmel aufgestiegen sein, und Mo Ran wird nur von unten zu ihm hinauf starren können.“

Xue Meng hatte triumphierend gegrinst: „Zwanzig Jahre? Ha, seht euch doch nur mal sein zerrauftes Äußeres an. Er hat keine Chance, in diesem Leben überhaupt noch einen Geisterkern auszubauen.“

Entgegen aller Erwartungen aber hatte dieser zerraufte Junge nach gerade mal einem Jahr Training mit seinem Shizun bereits einen Geisterkern ausgebildet.

Den kleinen Phönix schien der Blitz getroffen zu haben; er hatte das ungute Gefühl, als hätte man ihm direkt ins Gesicht geschlagen. Er konnte das nicht einfach so ohne Gegenwehr hinnehmen.

Also hatte er sich eine Voodoo-Puppe geschnappt und mit ihr die Sohlen des anderen verwünscht, auf dass er ausrutschen würde, wenn er versuchten sollte, auf seinem Schwert zu fliegen, und ihn dann noch mit ewiger Stummheit verflucht

Wann immer er Mo Ran sah, ließ es sich der kleine Phönix Xue Meng nicht nehmen, ihn mit einem Augenrollen zu bedenken, und seine spöttischen Worte konnte man noch auf drei Meilen Entfernung hören.

Mo Ran konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er an diese Erinnerungen seiner Kindheit dachte. Schon lange hatte er die Welt der Sterblichen nicht mehr so genossen wie heute. Er war für zehn Jahre lang allein gewesen. Und selbst die Dinge, die er damals gehasst hatte, waren nun plötzlich angenehm und unterhaltsam.

Shi Mei sah Xue Meng und saß sofort von seinem Pferd ab, er nahm den schwarzen Hut mit dem silbernen Schleier vom Kopf und zeigte so sein erstauntes Gesicht.

Es war kein Wunder, dass er sich so anziehen musste, wann immer er alleine den Berg verließ. Mo Ran warf ihm aus dem Augenwinkel einen Blick zu und fühlte sofort, wie ihm schwindelig wurde und ihm der Atem stockte. Diese Person war wirklich von unsagbarer Schönheit – genug, um jemandes Seele erschaudern zu lassen.

Shi Mei begrüßte ihn: „Junger Herr.“

Xue Meng nickte ihm zu: „Du bist wieder da? Hat sich die Angelegenheit mit den Leuten im Bärenfell geklärt?“

Shi Mei lächelte und sagte: „Es ist abgeschlossen. Ich hatte Glück und bin A-Ran über den Weg gelaufen. Er hat mir sehr geholfen.“

Xue Mengs arrogante Augen waren wie ein scharfer Windstoß. Sein Blick fegte einmal kurz über Mo Ran hinweg und dann wandte er sich sofort wieder ab. Er runzelte die Stirn und sein Gesicht war voller Abscheu, als ob er seine Augen beschmutzen würde, wenn er Mo Ran auch nur für einen Moment länger ansah.

Shi Mei, geh vor und ruh’ dich erst mal aus. In Zukunft solltest du dich nicht mehr mit ihm abgeben. Das ist ein hinterhältiger Geselle. Von ihm wirst du nur schlechte Manieren lernen.“

Mo Ran ließ sich nicht unterbuttern und lachte nur: „Wenn Shi Mei nicht von mir lernen soll, bedeutet es dann etwa, dass er sich lieber dich als Vorbild nehmen sollte? Du stehst hier in voller Montur mitten in der Nacht, deine Schwanzfedern aufgestellt wie ein Vogel, und du willst der gesegnete Sohn des Himmels sein?… Hahaha, ich denke ja, es wäre angebrachter, dich das gesegnete Prinzesschen des Himmels zu nennen, meinst du nicht auch?“

Xue Meng fauchte ihn wütend an: „Mo Ran, du wagst es, so etwas zu sagen. Das ist mein Zuhause! Wer glaubst du, wer du bist?!“

Mo Ran betrachtete gelassen seine Finger: „Ich bin dein älterer Cousin. Wenn es also um das Alter geht, dann stehe ich sogar über dir.“

Xue Meng sah aus, als hätte man ihn gerade mit Hundescheiße beworfen und verzog sofort das Gesicht vor Ekel. Er sagte nur steif: „Wer würde schon gerne einen älteren Cousin wie dich haben wollen! Schmeichel dir nicht auch noch selbst. Für mich bist du nichts weiter als ein Hund, der sich im Schlamm wälzt.“

Xue Meng mochte es, in seiner Schelte Beleidigungen einzubauen, die auf das „Hundethema“ abzielten; also sagte er gerne Sachen wie „Hundesohn“, „Köter“, „Welpe einer räudigen Hündin“ oder aber „du wurdest von Hunden groß gezogen“. Wann immer er seinen Mund aufmachte, um zu fluchen, waren seine Schimpfworte ohne jede Konkurrenz. Mo Ran hatte sich bereits lange schon daran gewöhnt. Es war Shi Mei, dem dabei unbehaglich wurde und der nun Xue Meng einige Worte zu flüsterte. Xue Meng ließ schließlich nur ein kaltes Schnauben vernehmen und hielt dann seinen ach so edlen Schnabel.

Shi Mei lächelte und fragte dann sanft und zärtlich: „Junger Herr, es ist schon so spät, hast du denn auf jemanden hier vor dem Tor des Berges gewartet?“

Was hätte ich sonst hier machen sollen? Den Mond betrachten?“

Mo Ran stieß ein herzhaftes Lachen aus und sagte: „Und da habe ich grade noch gesagt, wie sehr du dich heraus geputzt hättest. Jetzt stellt sich raus, dass du eine Verabredung hast, ein Date! Los, wer ist die Unglückliche? Sie tut mir ja so leid, hahahahaha.“

Xue Mengs Gesicht wurde so finster und dunkel, dass man es gut für einen Klumpen Kohle hätte halten können. Er sagte bissig: „Du bist es!“

Äh… ich?“

Ich habe auf dich gewartet, was sagst du nun?“

Mo Ran sagte gar nichts. Er war sprachlos vor Verblüffung.


____________________________________

-shimei: Bezeichnung einer jüngeren Mitschülerin oder „Ordensschwester“ in einer Sekte. Wird nur für Frauen benutzt. Shi Meis Name wird ähnlich ausgesprochen, aber anders geschrieben.

-shige/ - shixiong: Bezeichnung eines älteren Mitschülers oder „Waffenbruders“ in einer Sekte. Wird nur für Männer benutzt. Shixiong ist die allgemeine Bezeichnung, während Shige deutlich vertrauter ist.

Sisheng Peak: wortwörtliche Übersetzung ist „Der Gipfel von Leben und Tod“. Da das im Fließtext immer ein bisschen zu geschwollen kling, verwende ich meist nur den Ursprungsnamen. Dies ist sowohl der Name der Gebirgsgegend, wie auch der der Sekte.

Xue Ya: „Xue“ ist der Nachname des Sektenleiters und seiner Familie – eine Anspielung darauf, dass er den Jungen als seinen eigenen Sohn ansah und aufziehen wollte. In Verbindung mit dem Wort „Ya“ bedeutet es ebenfalls „kleines Mädchen“.

Goudan: Bedeutet übersetzt „Hundehoden“

Tiezhu: Bedeutet übersetzt „eiserne Säule“ oder „stählerner Schwanz“

Shi Mei: „Mei“ kann man mit verschiedenen Schriftzeichen schreiben. In „Shimei“ (kleine Schwester) wird ein Schriftzeichen genutzt, das „wunderschön“ bedeutet. Der Herr des Sisheng Peaks schlägt Xue Ya ein Schriftzeichen vor, das „unwissend/ ungebildet/ unschuldig“ oder auch „verheimlichen/ verbergen“ bedeutet – wahrscheinlich, um den Namen zumindest im schriftlichen Gebrauch von „shimei“ abzugrenzen.

A-: Eine Endung, die den Namen voran gestellt wird, wenn die Personen zueinander ein sehr zärtliches und vertrautes Verhältnis haben. Meist steht nach der Silbe dann nur ein einsilbiges Wort oder eine einsilbige Abkürzung des eigentlich mehrsilbigen Namens.

Kowtow: Eine sehr unterwürfige Art der Verbeugung, bei dem sich der Betreffende auf den Boden kniet und mit der Stirn die Erde berührt. Sie gilt als Zeichen größten Respektes oder starker Unterwürfigkeit.

-xianjun: Wortwörtlich übersetzt „Unsterblicher“. Gilt als allgemeine, höfliche Bezeichnung für einen (mächtigen) Kultivierer.

Freudenhaus: Nicht zwangsläufig ein Bordell. Diese Häuser waren eher für die gehobenere Gesellschaft gedacht, um Musik, Tanz, gutem Essen und angenehmer Gesellschaft zu frönen. Trotzdem: Sex gab es da teilweise auch.

Geisterkern: Dies ist eine Masse an geballter, spiritueller Energie, die im Herzen eines Kultivierers liegt und die Basis für eine sehr starke Kultivierung bildet. Ein schöner Vergleich: Wenn die spirituelle Kraft wie freies Wasser oder ein wilder Fluss ist, so ist der Geisterkern wie ein Eimer oder ein Staudamm, in dem man das Wasser sammeln kann, um dann nach Belieben daraus zu schöpfen. Wenn man es in der Kultivierung weit bringen will, ist ein Geisterkern ein absolutes Muss. Einem Kultivierer seines Geisterkerns (durch Entfernung oder Zerstörung) zu berauben, bedeutet ihm auch seine Kraft zu stehlen und aus ihm einen ganz normalen Menschen zu machen.

auf dem Schwert fliegenFür fortgeschrittene Kultivierer ist das Schwert nicht nur eine Waffe, sondern auch ein Transportmittel. Man kann sich auf die flache Schneide stellen, zur Not das Schwert mit spiritueller Kraft auch noch vergrößern, und durch die Luft fliegen – wodurch man schneller von A nach B gelangt.



vorheriges Kapitel


Kommentare

  1. Sanda1: "Also ich habe ja gelesen, dass es mit deinen "Fußnoten" mit der Zeit besser werden soll, aber bis jetzt merke ich noch nichts davon. Und überhaupt - man vergisst ja alles, was man in den vorherigen Kapiteln gelesen hat!"
    Sanda3 (*macht sich einen Vermerk, dass auf dieser Seite noch ein Glossar fehlt*)

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kapitel 1 - Dieser Ehrwürdige stirbt

Kapitel 06 – Der Shizun dieses Ehrwürdigen