Kapitel 2 - Dieser Ehrwürdige lebt
Nach seinem erfolgreichen Selbstmord wacht Mo Ran unerwartet im Körper seines 16-jährigen Ichs wieder auf - wiedergeboren in der Vergangenheit mit allen Erinnerungen an sein früheres Leben.
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Sexszene
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„Statt Gedanken nur noch Asche, mein Herz ruht still und sacht,
Und
doch erscheint das Licht der Quelle hell in der kalten Nacht.
Oh
Götter, habt ihr Mitleid mit den Gräsern im toten Tal?
Nein, ich
fürchte, es regiert nur Zwiespalt überall.“
Das laute Trällern einer klaren Frauenstimme drang an seine Ohren. Die poetischen Worte reihten sich aneinander wie Perlen und Jade auf einer edlen Halskette, aber die Melodie ließ Mo Rans Kopf schmerzen. Die Ader an der Seite seiner Schläfe drückte sich zornig durch die Haut.
„Was soll der Krach?! Welche jaulende Todesfee ist für diesen Lärm verantwortlich? Wachen, kommt her und werft diese Schlampe den Berg hinunter!"
Erst nachdem er diese Worte bereits geschrien hatte, erkannte Mo Ran verwirrt, dass etwas nicht ganz stimmte.
... Hätte er nicht tot sein sollen?
Hass, Kälte, Schmerz, Kummer und Einsamkeit durchstachen allesamt gleichzeitig seine Brust. Mo Ran riss die Augen auf.
Jede Erinnerung an das, was kurz vor seinem Tod passiert war, zerstob in seinem Kopf wie der Schnee im Wind. Er fand sich in einem Bett liegend wieder. Es war nicht sein Bett im Sisheng Peak, sondern eine Schlafstätte, die mit geschnitzten Drachen und Phönixen verziert war. Von dem Holz ging ein schwerer Duft aus, die alte, verschlissene Bettwäsche war in verblassten Rosa- und Violetttönen gehalten und mit im Wasser spielenden Mandarinenten bestickt. Diese Art Betten fand man nur in einem Bordell.
Mo Ran hatte es die Sprache verschlagen. Für einen Moment lang war er vollkommen erstarrt.
Er wusste, wo das war.
Dies war das Herbergshaus in der Nähe des Sisheng Peaks.
Gut, auch wenn dieses Gebäude den Namen „Herberge“ trug, so war damit doch eher ein Bordell gemeint – die Gäste kamen und gingen, ohne sich an irgendetwas in diesen Mauern binden zu müssen.
In seiner Jugend hatte Mo Ran eine sehr sündhafte und ausschweifende Phase durchlebt, in der er zum Teil mehr Nächte des Monats in diesem Haus verbracht hatte als in seinem eigenen Zimmer des Sisheng Peaks. Aber dieses Bordell war schon vor langer Zeit verkauft worden und, als er etwa um die Zwanzig war, hatte in diesem Haus dann ein Weingeschäft eröffnet. Wie konnte er also nach seinem Tod in einem Quartier aufwachen, das es seit vielen Jahren nicht mehr gab?
Könnte es sein, dass er zu Lebzeiten zu grausam gewesen war und zu viele Menschen verletzt hatte, sodass ihn nun der König der Unterwelt dazu verdammt hatte, als Prostituierte wiedergeboren zu werden und den Kunden entsprechend zu dienen?
Während er immer noch in solch wilde Gedanken verstrickt war, wälzte sich Mo Ran unbewusst herum… und stieß unerwartet auf eine schlafende Person.
Sprachlos fuhr er zurück.
Was zur Hölle! Warum schlief da jemand neben ihm?
Ein Mann um ehrlich zu sein - und ein völlig nackter Mann noch dazu!
Dieser Mann war jung und hatte weiche Gesichtszüge, die ein jedem nur gefallen konnten. Er sah so zart und lieblich aus, dass es auf den ersten Blick schwer zu sagen war, ob er nun ein Mann war oder nicht doch eine Frau.
Mo Rans Gesicht blieb ruhig, aber sein Herz raste. Er starrte eine Weile auf das blasse, schlafende Gesicht und erinnerte sich dann plötzlich.
War das nicht der Lustknabe, dem er in seiner Jugend verfallen war? Wie hieß er doch gleich? … Rong San? Oder war es Rong Jiu?
Der Name war jetzt nicht wichtig. Was wichtig war, war nur, dass dieser Mann sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen hatte und schon vor vielen Jahren gestorben war. Er war schon so lange tot, dass selbst seine Knochen bereits verrottet sein müssten.
Und trotzdem lag er in diesem Moment anmutig zusammengerollt an Mo Rans Seite, auf seinen Schultern und dem Hals waren blaue und lilafarbene Knutschflecke und Abdrücke seiner Zähne zu sehen.
Mo Ran verzog das Gesicht, hob dann die Decke an und blickte nach unten.
Schweigend betrachtete er das Bild vor sich.
Ob dieser Mann nun Rong Jiu oder Rong San hieß – er würde einfach mal bei Rong Jiu bleiben – er konnte nun seinen ganzen, hübschen Körper betrachten. Auf der schönen Haut waren rote Striemen zu sehen, die von einem Seil stammen mussten, und um seinen blassen, weichen Oberschenkel war noch immer fest ein rotes Band in einem aufwendigen Muster gewickelt.
Mo Ran strich sich über das Kinn. Sehr interessant.
Wenn er nun diese exquisite Seilarbeit betrachtete, diese geschickte Knüpftechnik, dieses ihm doch sehr vertraute Bild… War das denn nicht seine eigene verfickte Handschrift?!
Da es sich bei ihm um einen Kultivierer handelte, der nach Unsterblichkeit strebte, war er mit dem Phänomen der Wiedergeburt durchaus vertraut. Und gerade kam ihm langsam der Verdacht, dass er irgendwie in die Vergangenheit zurück gekehrt war.
Um seinen Verdacht zu bestätigen, stand Mo Ran auf und ging hinüber zu dem Bronzespiegel. Der Spiegel war stark abgenutzt, aber immer brauchbar genug, dass man vage die eigene äußere Erscheinung auf der schummrigen, gelben Oberfläche ausmachen konnte.
Zum Zeitpunkt seines Todes war Mo Ran zweiunddreißig Jahre alt gewesen, aber das Gesicht des Mannes im Spiegel war deutlich jünger – es war das Gesicht eines Teenagers. In den hübschen, glatten Zügen sah er die Arroganz und Verwegenheit eines jungen Mannes, der nicht älter als fünfzehn oder sechzehn sein konnte.
Es war niemand sonst außer ihnen in dem Schlafzimmer. Daher konnte nach reichlicher Überlegung der ehemalige Tyrann der Kultivierungswelt, der grausame Herrscher über Sichuan, der Kaiser in der Welt der Sterblichen, der Herr des Sisheng Peaks, Taxian-Jun, Mo Ran nur noch in den sauren Apfel beißen und er sprach ehrlich seine tiefen, inneren Gefühle aus: „Fuck...“
Dieser Ausruf weckte den benebelten Rong Jiu.
Das hübsche Ding setzte sich träge auf, und die dünne, bestickte Decke, die bis eben noch seinen Körper verhüllt hatte, glitt von seinen Schultern und zeigte eine strahlend blasse Brust. Er fasste das lang, weiche Haar, das über seinen Körper fiel, zusammen. Aus seinen Augen, die so rund waren wie Pfirsichblüten und mit roter, verwischter Schminke umrandet waren, bedachte er Mo Ran mit einem schläfrigen Blick.
„Oh, Mo-gongzi, du bist heute aber schon sehr früh wach.“
Mo Ran sagte nichts. Damals in seiner Jugend hatte er solch androgyne und grazile Gestalten wie Rong Jiu wirklich gemocht. Doch nun konnte der zweiunddreißigjährige Taxian-Jun wirklich nicht mehr sagen, was er daran tatsächlich jemals attraktiv gefunden hatte. Er musste damals wirklich ein riesiges Brett vorm Kopf gehabt haben, um ein solches Gesicht angenehm zu finden.
„Hast du die Nacht nicht gut schlafen können? Hattest du einen Albtraum?“
Dieser Ehrwürdige ist verflucht noch mal gerade erst gestorben, reicht das als Alptraum aus?
Rong Jiu deutete sein beharrliches Schweigen als ein Anzeichen von schlechte Laune. Er stand auf, kam zu dem geschnitzten Holzfenster herüber und umarmte Mo Ran von hinten.
„Mo-gongzi, warum ignorierst du mich?“ säuselte er neckend. „Warum gehst du denn plötzlich so auf Abstand?"
Bei dieser plötzlichen Umarmung lief Mo Rans Gesicht blau an. Er wollte nichts lieber, als dieses Flittchen von sich zu stoßen und diesem zarten, zerbrechlich wirkenden Gesicht ein paar Dutzend Ohrfeigen verpassen, aber er hielt sich zurück.
Er war immer noch ein wenig benommen und sein Kopf drehte sich. Er war sich über die ganze Situation noch nicht vollkommen im Klaren.
Außerdem, wenn er wirklich wiedergeboren worden war, dann hätte er sich gestern noch mit Rong Jiu vergnügt. Da konnte er ihn jetzt nicht einfach so aus der Kalten heraus verprügeln. Ein solches Verhalten würde sich ja kaum von einer Geisteskrankheit unterscheiden. Nein, das kam nicht in die Tüte.
Mo Ran brachte seine Mine wieder unter Kontrolle und fragte dann ungezwungen, wobei er leichte Vergesslichkeit vortäuschte: „Welchen Tag haben wir heute?“
Rong Jiu war verblüfft, lächelte dann und sagte: „Es ist der vierte Mai.“
„Das dreiunddreißigste Jahr?“
„Das war letztes Jahr, dieses Jahr ist das vierunddreißigste. Heißt es denn nicht, dass große Männer einen Hang zur Vergesslichkeit haben und stets noch in der Vergangenheit leben? Mo-gongzi scheint da keine Ausnahme zu sein."
Das vierunddreißigste Jahr...
Mo Rans Augen verdunkelten sich, als es in seinem Kopf zu rattern begann.
Der zweiunddreißigjährige Mo Ran war momentan wieder sechzehn Jahre alt und er war in das Jahr zurück versetzt worden, in dem ihn der Herr und Sektenleiter des Sisheng Peaks als seinen lang verlorenen Neffe erkannt und er ihn in die Sekte aufgenommen hatte. Über Nacht war aus dem erbärmlichen, geprügelten Hund ein kleiner Phönix geworden, der sich noch schüchtern im Blattwerk versteckte.
Dann… war er wirklich wiedergeboren worden?
Oder war das alles nur ein leerer Traum, den ihn der Tod vorgaukelte?
Rong Jiu lächelte. „Mo-gongzi, du musst wirklich hungrig sein. Dass du selbst schon das Datum vergessen hast... Bleib hier, ich werde in die Küche gehen und etwas zu essen holen. Wie wäre es mit gebratenem Youxuan Fladenbrot?"
Mo Ran war gerade erst wiedergeboren worden und wusste noch nicht, wie er mit all dem umgehen sollte, aber es sollte nichts dagegen sprechen, sich so zu verhalten wie früher. Also erinnerte er sich an seine damals so charismatisch-romantische Rolle, ertrug die Übelkeit in seinem Bauch und setzte ein Grinsen auf, während er Rong Jiu spielerisch in den Oberschenkel zwickte.
„Klingt gut. Bring mir auch eine Schüssel Reisbrei mit. Und wenn du zurückkommst, kannst du mich füttern.“
Rong Jiu zog ein paar Kleider über und ging hinaus. Nach einer Weile kam er mit einem Holztablett zurück, auf dem sich eine Schüssel Kürbis-Reisbrei, zwei gebratene Youxuan Fladenbrote und eine zusätzliche Platte mit kleinen Beilage befanden.
Mo Ran war ein wenig hungrig und wollte sich gerade einen Fladen nehmen, doch Rong Jiu schob seine Hand weg. „Ich werde dich damit füttern, Gongzi“, sagte er süßlich.
Mo Ran blieb still.
Rong Jiu nahm ein Stück Brot in die Hand und setzte sich auf Mo Rans Schoß. Er trug nur ein dünnes Gewand mit nichts darunter. Er spreizte seine schlanken, weichen Schenkel, während er sich an Mo Ran drückte. Er begann sich sogar leicht an ihm zu reiben. Der Versuch, ihn zu verführen, war mehr als eindeutig.
Ein paar Augenblicke lang starrte Mo Ran Rong Jius Gesicht einfach nur an.
„Warum siehst du mich so an?“, fragte Rong Jiu in spielerischem Unbehagen, da er offenbar dachte, dass Mo Ran wieder scharf auf ihm wurde. „Das Essen wird noch kalt.“
Mo Ran schwieg noch einen weiteren Moment lang und langsam verzog er dann seine Mundwinkel zu einem süßen Lächeln, einem unvergleichlichen Lächeln, als er sich an all die „guten Sachen“ erinnerte, die Rong Jiu in seinem letzten Leben hinter seinem Rücken getan hatte.
Als Taxian-Jun hatte er eine Menge abscheulicher Dinge getan. Wenn er es wollte, konnte er sich zu allem durchringen, egal wie ekelhaft und widerwärtig es sein mochte. Und das hier wäre auch nichts weiter als nur ein kleines Schauspiel. Kinderleicht.
Mo Ran lehnte sich lässig auf dem Stuhl zurück und lächelte: „Setz dich.“
„Ich... ich sitze doch schon.“
„Du weißt genau, was ich damit meine.“
Rong Jiu errötete und begann zu stottern: „Warum die Eile, junger Herr? Willst du nicht zuerst etwas ess- ... Ah!“
Bevor er auch nur zu Ende gesprochen hatte, wurde er von Mo Ran gewaltsam nach vorn geschoben und wieder hinunter gedrückt. Rong Jius Hände zitterten, und die Schüssel mit dem Brei fiel zu Boden. „Mo-gongzi“, keuchte er zwischen einigen heftigen Atemzügen hervor, „die Schüssel...“
„Lasst sie liegen.“
„A-Aber du solltest wirklich erst etwas essen… nngh… ah...“
„Tue ich das denn nicht gerade?“ Mo Ran hielt seine Hüfte fest, seine dunklen Augen blitzten auf. Rong Jius liebliches Gesicht spiegelte sich in seinen pechschwarzen Pupillen, als er ihm den Kopf in den Nacken drückte.
In seinem früheren Leben hatte es Mo Ran sehr gemocht, diese bezaubernden Lippen während ihrer intimen Momente zu küssen. Schließlich war dieser junge Mann sehr hübsch, lieblich und wusste genau, welche Dinge er sagen musste, um sein Herz zu erweichen. Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass er nie etwas für ihn empfunden hätte.
Aber wo er nun wusste, welch verräterische Dinge diese Lippen hinter seinem Rücken angerichtet hatten, hatte Mo Ran das Gefühl, dass von diesem Mund ein fauliger Geruch ausging, und er hatte keinerlei Interesse mehr, ihn zu küssen.
Es gab viele Unterschiede zwischen dem zweiunddreißigjährigen Mo Ran und seinem ehemaligen fünfzehnjährigen Selbst.
Als er fünfzehn Jahre alt gewesen war, kannte er zum Beispiel noch Zärtlichkeit in der Liebe, aber als Zweiunddreißigjähriger gab es da nur noch Gewalt.
Nachdem er fertig war, sah Mo Ran auf Rong Jiu hinab, der so sehr durchgefickt worden war, dass er das Bewusstsein verloren hatte. In Mo Rans Blick lag eine unterschwellige Finsternis und als er ihn so betrachtete, bogen sich seine Augen leicht nach oben, als würden sie den Hauch eines süßen Lächelns in sich tragen. Er sah unglaublich gut aus, wenn er lächelte; seine Pupillen waren extrem dunkel und abgründig tief, und aus einem bestimmten Blickwinkel schienen sie mit einer Schicht aus luxuriösem dunklem Purpur überzogen zu sein. Immer noch lächelnd packte er Rong Jiu am Schopf. Er zog den Bewusstlosen an den Haaren zum Bett hinüber, hob beiläufig eine Porzellanscherbe vom Boden auf und drückte sie an Rong Jius Gesicht.
Er rächte sich immer für die kleinsten Vergehen, die man ihm angetan hatte, und das würde auch diesmal nicht anders sein.
Wenn er daran dachte, wie gut er Rong Jiu in seinem früheren Leben behandelt hatte, wie er sogar vorgehabt hatte ihn freizukaufen, und wie Rong Jiu es ihm gedankt hatte, indem er hinter seinem Rücken mit anderen Mo Rans Untergang plante, konnte er nicht anders, als die Augen noch mehr zu einem Lächeln zusammenzukneifen und die scharfe Keramikscherbe noch fester auf Rong Jius Wange zu drücken.
Diese Person konnte ihren Lebensunterhalt allein mit ihrem Körper bestreiten. Ohne dieses schöne Gesicht war er nichts.
Dieser Mann würde gezwungen sein, wie ein Hund auf der Straße zu leben, auf dem Boden herum zu kriechen, von Stiefeln getreten zu werden, sich beschimpfen zu lassen und alle Arten der Misshandlung und Zurückweisung zu erdulden... Schon allein die Vorstellung daran erfreute Mo Ran so sehr, dass selbst der Brechreiz in ihm, der davon stammte, weil er wusste, dass er diesen Mann gerade eben noch gefickt hatte, wie Rauch verpuffte.
Sein Lächeln wurde noch lieblicher.
Als er etwas mehr Druck auf Rong Jius Wange ausübte, sickerte eine Spur von hellrotem, betörenden Blut aus der Haut.
Der Bewusstlose schien den Schmerz zu spüren. Mit heiserer Stimme stöhnte er leise, die Tränen hingen noch immer an seinen Wimpern und er sah mitleiderregend aus.
Mo Rans Hand hielt plötzlich inne.
Er dachte an einen alten Freund.
Dann wurde ihm plötzlich klar, was er da gerade tat. Er starrte für ein paar Sekunden ins Leere, bevor er langsam die Hand sinken ließ.
Er hatte in dem anderen Leben so viele böse Taten verübt, dass das für ihn nun schon fast zur Gewohnheit geworden war. Er hatte dabei fast vergessen, dass er ja wiedergeboren worden war.
Momentan war noch nichts von all dem geschehen. Die unverzeihlichen Fehler, all die grausamen Taten, die er nie wieder gut machen konnte, waren noch nicht passiert und diese eine Person... war noch nicht gestorben. Warum sollte er den alten, grausamen Weg noch einmal gehen, wenn er die Chance hatte, neu anzufangen?
Er setzte sich auf das Bett, sein Fuß ruhte auf der Bettkante, und er spielte gedankenverloren mit dem zerbrochenen Porzellan in seiner Hand. Das gebratene Fladenbrot, das noch immer auf dem Tablett lag, fiel ihm ins Auge. Er schnappte es, zog das Fettpapier ab und versenkte seine Zähne in dem weichen Teig. Er stopfte es in sich hinein, bis die Krümel nur so herunter rieselten und seine Lippen von öligem Fett glänzten.
Die Xouxuan Fladenbrote waren die Spezialität des Hauses. Sie waren nicht gerade köstlich - verglichen mit den Delikatessen, die Mo Ran in seinem letzten Leben gekostet hatte, schmeckten sie fade und die Konsistenz war, als würde man auf Wachs herum kauen. Doch nachdem dieses Geschäft den Bach runter gegangen war, hatte Mo Ran nie wieder ein solches Gericht gegessen. Und doch war er nun wieder hier. Trotz allem, was in der Vergangenheit geschehen war, stand er noch einmal hier und konnte diesen ihm so vertrauten Geschmack auskosten.
Mit jedem Bissen, den er hinunter schluckte, erschien ihm die Realität der Wiedergeburt immer plausibler.
Als er das Brot vollkommen aufgegessen hatte, war sein Verstand endlich aus der anfänglichen Taubheit, die er seit seinem Erwachen verspürt hatte, aufgewacht.
Er war wirklich wiedergeboren worden.
All das Böse in seinem Leben, all die Taten, die er nie hatte zurück nehmen können, waren noch nicht geschehen.
Er hatte Onkel und Tante noch nicht getötet, er hatte die zweiundsiebzig Städte noch nicht nieder gemäht, er hatte seinen Shizun und die Ideale seiner Vorfahren noch nicht verraten, er hatte noch nicht geheiratet, er hatte noch nicht...
Es war noch niemand tot.
Er schluckte den letzten Bissen hinunter und leckte sich über seine weißen Zähne. Er spürte, wie der winzige Funken Freude in seiner Brust schnell zu einer fiebrigen Aufregung heran wuchs. Zu Lebzeiten hatte er sich dem Himmel und der Erde entgegen gestellt und sich in allen drei verbotenen Techniken der Kultivierungswelt geübt. Zwei davon hatte er bis zur Perfektion beherrscht, aber trotz seiner Intelligenz und seiner angeborenen Begabung hatte sich ihm die letzte Technik, die der Wiederbelebung, bis zum Schluss entzogen.
Unerwarteterweise war ihm das, was er im Leben trotz aller Bemühungen nicht hatte bekommen können, mit seinem Tod ohne irgendwelches Zutun in den Schoß gefallen.
All der Unwille, der Ekel, die Depression und die Einsamkeit, all diese unschönen Gefühle seines letzten Lebens saßen noch immer in seiner Brust. Der Anblick der Armee, die den Sisheng Peak belagerte, und die tausend Fäden der entzündeten Fackeln, als sie zum Palast marschierten, waren ihm noch frisch im Gedächtnis.
Damals hatte er wirklich nicht mehr leben wollen. Jeder hatte ihm gesagt, dass seine bloße Existenz alle verfluchten würde, die ihm je nahe gestanden hatten, und dass es sein Schicksal sei, alleine zu sterben. Jeder hatte sich von ihm abgewandt. Am Ende hatte er sich wie eine wandelnde Leiche gefühlt, teilnahmslos und allein.
Er hatte keine Ahnung, was genau aus dem Ruder gelaufen war, dass ein so abscheulicher und hoffnungslos böser Mensch wie er tatsächlich die Chance bekam, noch einmal ganz von vorne anzufangen und sein Leben nach seinem Selbstmord noch einmal neu gestalten zu können.
Warum sollte er das Gesicht von Rong Jiu ruinieren, um einen alten Groll aus der Vergangenheit zu rächen?
Rong Jiu liebte vor allem Geld. Es würde reichen, ihn dieses Mal einfach nicht für seine Dienste zu bezahlen und zudem noch ein paar Silberbarren mitgehen zu lassen, um ihm eine Lektion zu erteilen. Und was Rong Jius Leben anging – mit dieser Bürde wollte er sich jetzt nicht belasten.
„Heute kommst du noch mal ungestraft davon, Rong Jiu“, sagte Mo Ran mit einem Lächeln und er warf die Porzellanscherbe aus dem Fenster.
Dann bediente er sich an allen Wertsachen von Rong Jiu und steckte sie in seine eigene Tasche. Danach reinigte er sich gewissenhaft und zog sich an. Schließlich verließe er ohne Eile das Haus und machte sich auf den Weg.
Onkel und Tante, Cousin Xue Meng, Shizun, und...
Als er an diese letzte Person dachte, wurde Mo Rans Blick sofort weicher.
Shige, ich kehre zurück.
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Youxuan Fladenbrot: frittierter Teigfladen, mit einem spiralförmigen Muster
-shige/ -shixiong: Bezeichnung eines älteren Mitschülers oder „Waffenbruders“ in einer Sekte. Wird nur für Männer benutzt. Shixiong ist die allgemeine Bezeichnung, während Shige deutlich vertrauter ist.
Sandas Reaktion, als sie das erste Mal dieses Kapitel gelesen hat: "Oha... das kam jetzt irgendwie unerwartet. Es sieht so aus, als wäre Mo Ran hier irgendwie der Protagonist. Nach dem ersten Kapitel dachte ich, dass Xue Meng hier der Held wäre."
AntwortenLöschenSandas Reaktion auf diesen Kommentar (nachdem sie 2HA gefühlt schon 3x durch gesuchtet hat): "Besser du gewöhnst dich dran, dass "Protagonist" nicht immer glich "Held" bedeutet, Schätzchen